Für den Bau des Nordteils der Seestadt Aspern ist die fertige Stadtstraße eine Voraussetzung.

Foto: Martin Putschögl

Das Protestcamp gegen die Wiener Stadtstraße ist Geschichte. Was bedeutet der Baubeginn für die Stadt?

Frage: Wird die Stadtstraße jetzt nach der Räumung des Protestcamps definitiv gebaut?

Antwort: Ja, die Stadt macht jetzt Ernst. Die Bauarbeiten sollten ja schon längst laufen, die Besetzung im Herbst hat sie verhindert beziehungsweise nun eben einige Monate lang hinausgezögert. Die Stadt betont stets, dass alle Genehmigungen für die Straße vorliegen. Es gab eine Umweltverträglichkeitsprüfung, die positiv beschieden wurde. Jetzt werden Bäume gerodet, und wenn sich niemand mehr den Baggern in den Weg stellt, wird gebaut.

Frage: Wieso heißt die Straße Stadtstraße, ist es nicht eher eine Autobahn?

Antwort: In den Augen der Gegnerinnen und Gegner handelt es sich um eine Autobahn, weil sie in jede Richtung zweispurig geführt wird und keine begleitenden Geh- oder Radwege aufweist. Doch einerseits wird die Geschwindigkeitsbegrenzung 50 km/h betragen, sagen Vertreter der Stadt, und andererseits sei es aus Sicherheitsgründen notwendig, die Straße zweispurig zu errichten. Geplant sind nämlich auch zwei Tunnel, deren Röhren getrennt sein und jeweils zwei Fahrstreifen aufweisen müssen. Autobahn ist es aber auch schon deswegen keine, weil sie nicht die Asfinag baut, sondern die Gemeinde Wien. Planungsstadträtin Ulli Sima (SPÖ) spricht deswegen neuerdings gerne von einer Gemeindestraße.

Nach monatelanger Besetzung wurde das Protestcamp in der Hausfeldstraße in Wien geräumt. 48 Personen wurden festgenommen. Unser Videoteam war vor Ort
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Frage: Wieso ist der Stadt Wien bzw. der Wiener SPÖ diese Straße so wichtig?

Antwort: Einerseits will man sich von Klimaschützerinnen und Klimaschützern nicht vorschreiben lassen, wie man die Stadt weiterbaut. Bürgermeister Ludwig und Planungsstadträtin Sima sagen, dass der Bau von leistbaren Wohnungen für 60.000 Menschen daran hängt. Da ist der Nordteil der Seestadt Aspern mitgezählt, weiters Berresgasse und Hausfeld, aber auch Entwicklungsgebiete wie Heidjöchl und Süßenbrunner Straße Nord, für die es noch keine Widmung gibt. Letztlich stimmt es jedenfalls derzeit nur für den Nordteil der Seestadt.

Frage: Der Weiter- bzw. Fertigbau der Seestadt Aspern hängt also tatsächlich an der Stadtstraße?

Antwort: Seestadt Nord ist der letzte große Teil der Seestadt Aspern, und sogar der bisher größte Bauabschnitt. Er enthält unter anderem die Einkaufsstraße vom See hinauf zur U-Bahn-Station Aspern Nord, aber auch zahlreiche weitere Wohn- und Gewerbeprojekte. Hier werden Wohnungen für rund 17.000 Menschen errichtet. Und die können tatsächlich nicht gebaut werden, solange die Stadtstraße nicht für den Verkehr freigegeben wurde. Das wurde im UVP-Verfahren für Seestadt Nord so festgeschrieben. Anders als bei den bisherigen Seestadt-Quartieren ist beim Nordteil die Stadtstraße die Voraussetzung dafür, dass es Baugenehmigungen geben kann. Das könnte zwar nach Ansicht von Umweltschützern relativ leicht abgeändert werden. Tatsache ist aber natürlich auch, dass der große neue Stadtteil leistungsfähige Straßen braucht, denn hier sollen sich auch zahlreiche Betriebe und Unternehmen ansiedeln und haben das zum Teil auch schon getan. Die Perspektive des Lobautunnels hat dabei geholfen, doch der wurde von Verkehrsministerin Leonore Gewessler (Grüne) bekanntlich im Dezember abgesagt. Am selben Tag bekräftigte Gewessler jedoch, dass die Spange S1 gebaut werde, wenn sie nötig sein sollte. In der Seestadt-Entwicklungsgesellschaft war das Aufatmen im Dezember deshalb groß. Denn von dieser Spange – dabei handelt es sich um die Verlängerung der Stadtstraße Richtung Osten – sind die Anschlüsse zur Seestadt geplant. Die Stadtstraße endet nämlich eigentlich einige Hundert Meter vor der Seestadt.

Protest gegen Camp-Räumung vor der SPÖ-Zentrale in Wien.
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Frage: Was kritisieren die Umweltschützer an diesem Straßenbauprojekt eigentlich?

Antwort: Generell ist das Umweltbewusstsein in Teilen der Bevölkerung in den vergangenen Jahren stark gestiegen, der Kampf gegen die Bodenversiegelung ist ein wichtiges Thema geworden. Jede neue Straße bedeutet einerseits ein Mehr an versiegelter Fläche, andererseits wird konkret mit der Stadtstraße die in weiten Teilen der Donaustadt schon herrschende Dominanz des Autoverkehrs einzementiert. In ganz Wien war zwar nach dem Zweiten Weltkrieg die Stadtplanung einige Jahrzehnte lang stark am Auto orientiert, im 22. Bezirk gab es aber noch sehr viel Raum zwischen den alten Straßendörfern wie Aspern, Essling oder Breitenlee.

Da entstanden riesige Einfamilienhaussiedlungen in schlecht erschlossenen Gebieten, dazwischen zwar auch immer wieder ein paar größere Wohnsiedlungen, aber von richtigem Städtebau kann man erst seit dem Bau der Seestadt sprechen. Letztere ist auch seit Beginn der Bauarbeiten an die U-Bahn angeschlossen. Neben der U2 gibt es in der Donaustadt aber nur noch zwei Straßenbahnlinien; entlegenere Gebiete, wo zuletzt auch sehr viel Wohnbau entstand, sind meist nur mit Bussen erreichbar. Viele sind aufs Auto angewiesen oder wollen die einmal erlangte Bequemlichkeit nicht aufgeben. Natürlich wollen die Leute aber auch nicht täglich im Stau stehen. Ein Fuß- und Radwegenetz ist in der Donaustadt wiederum nur rudimentär vorhanden. (Martin Putschögl, 1.2.2022)