Höchst unterschiedliche Reaktionen lassen sich bei den Grünen auf die Enthüllung des geheimen Sideletters in der Koalition mit der ÖVP beobachten. Die einen sind empört und reden von Betrug, die anderen, meist Grüne mit Regierungserfahrung, beschreiben den Vorgang als normal.

Grünen-Chef Werner Kogler verspricht das Ende der Sideletters.
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Tatsächlich sind Geheimabsprachen für eine Partei, die so viel von Transparenz spricht, peinlich, weshalb Grünen-Chef Werner Kogler nun deren Ende verspricht. Aber sie können auch einen wichtigen realpolitischen Zweck erfüllen.

Komplizierte Verhandlungen können nicht auf offener Bühne geführt werden, denn das verhindert jene pragmatischen Tauschgeschäfte, die für Kompromisse unabdingbar sind. Das gilt auch für internationale Verhandlungen, etwa über Handelsabkommen, die nur hinter verschlossenen Türen zum Erfolg führen können. Werden Details vorzeitig bekannt, dann dient das meist dem Zweck, die Gespräche zu sabotieren.

Was Türkis und Grün im Sideletter vereinbart haben, wirkt auf den ersten Blick legitim. Das gilt für die politischen Postenbesetzungen ebenso wie für das eingeschränkte Kopftuchverbot, das die grüne Führung zu Recht als rein symbolisches Zugeständnis ohne konkrete Folgen gewertet hat.

Solche taktischen Züge sind einer Basis schwer zu vermitteln. Aber eine Partei, die aus moralischer Aufrichtigkeit darauf völlig verzichtet, wird ihre Ziele kaum durchsetzen können. Und das sollte auch den jetzt Empörten ein Anliegen sein. (Eric Frey, 2.2.2022)