Psychologie der "Begegnung" – in der Volksoper.

Foto: Ashley Taylor

Eine Begegnung kann glücklich sein, enttäuschend oder grauenhaft und, ja, so ziemlich alles dazwischen. Auf der Bühne begegnen Körper ab und zu einfach sich selbst: Wer tanzt, trifft auf das, was sie oder er tanzt. Allein im Licht eines einzigen Spots. Das Getanzte hat den Körper voll im Griff. Es kann ihn jederzeit fallen lassen.

Letzteres ist bei der Premiere des neuen Ballettabends Begegnungen des Wiener Staatsballetts in der Volksoper nicht passiert. Präsentiert werden "24 Préludes" des russischen Choreografie-Stars Alexei Ratmansky, die 2013 mit dem Londoner Royal Ballet entstanden sind, mit Andrey Kaydanowskiys Lux Ombra und Martin Schläpfers In Sonne verwandelt als Uraufführungen.

Das Premierenpublikum im gut besuchten Haus am Gürtel zeigte sich von allen drei Arbeiten begeistert. Nicht nur weil die Pandemie das Thema der Begegnung seit zwei Jahren "distancing" bis zum Anschlag auflädt, sondern auch weil die Wiener Compagnie wieder Tanz vom Feinsten zeigte.

Feinheiten der Formulierungen

Ratmansky hat zu Frédéric Chopins Spitzenwerk der 24 Préludes op. 28 aus den 1830er-Jahren eine "Psychologie" der Begegnung choreografiert. Männer und Frauen kommen einander in unterschiedlichsten Konstellationen nahe, oft in die Quere. Da spielen Erwartungen mit und Störungen, Freude, Stolz, Abneigung – oder man tanzt schlicht aneinander vorbei.

Wobei das Psychologische nur einen Teil dieses Balletts ausmacht. Das ganze Spiel wird erst sichtbar, wenn sich die Feinheiten der Formulierung treffen, zum Beispiel: wer wann welche Nuancen in ihre oder seine Bewegungen legt und wie das mit dem Licht (Wolfgang Könnyü), der Musik – es spielt das Volksopernorchester unter Gerrit Prießnitz –, den Kostümen (Keso Dekker) und dem Timing kommuniziert.

Umhergeistern

Die vier Tanzpaare, darunter Maria Yakovleva und Arne Vandervelde oder Liudmila Konovalova und Alexey Popov, sind hier in ihrem Element. Während Ratmansky sich des klassischen Balletts bedient, nutzt Andrey Kaydanowskiy bei "Lux Umbra" postmoderne Methoden, um seine Figuren in Platos Höhle umhergeistern zu lassen.

Den exzellenten Klang zu diesem Spiel über Einbildung und Begehren des Subjekts, aber auch Schein und Sein des Gemeinschaftlichen hat der Österreicher Christof Dienz beigesteuert. Licht, Tanz und Musik lassen die Schattenspiele der subjektiven Wahrnehmung lebendig werden. Das Licht zeigt die Figuren als Karikaturen ihrer eigenen Wünsche und als Überwachte auf der Insel ihrer Träume.

Poetische Spektren

Mit "Lux Umbra" beweist sich der 35-jährige Kaydanowskiy als hochtalentierter zeitgenössischer Ballettchoreograf. Mit ihm hat Compagnieleiter Martin Schläpfer eine treffende Wahl für diesen Abend getroffen.

Von Schläpfer selbst stammt das gelungene Abschlussstück. Dessen Titel "In Sonne verwandelt" scheint an "Lux Umbra" anzuschließen, doch in den Motiven des Zusammentreffens bleibt das Stück näher an Ratmanskys "24 Préludes".

Schläpfer konzentriert sich zwar auf die poetischen Spektren des Tanzens, aber die Körper auf der Bühne bleiben im Griff der politischen Verhältnisse ihrer Begegnungen: Es gibt gemeinsamen Tanz sowie Abweichung, Einheit und deren Zerfall. Einer hebt eine hoch, sie zappelt widerwillig mit den Beinen. Ein anderer scheint sich ein Auge aus dem Kopf stochern zu wollen. Dann wieder wird im Trio männliche Vitalität dargestellt. Ein guter Abschluss: In seinen Andeutungen ohne "Geschichte" ist Martin Schläpfer ganz groß. (Helmut Ploebst, 3.2.2022)