Der alte und neue Staatspräsident Sergio Mattarella wurde am Donnerstagnachmittag in Rom zum zweiten Mal als Staatsoberhaupt Italiens vereidigt – doch die Wiederwahl des 80-Jährigen droht nun paradoxerweise die Regierungsarbeit in Italien zu belasten statt zu erleichtern. Der Grund: Matteo Salvini, Chef der rechten Lega, der bei der Staatspräsidentenwahl als "Königsmacher" punkten wollte, ist dabei zum großen Verlierer geworden – und nun versucht er, sein Image-Debakel mit besonders forschem Auftreten in der Regierung vergessen zu machen.

Nicht zum ersten Mal will Matteo Salvini Taktikfehler mit besonders rüdem Auftreten vergessen machen.
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Am Mittwoch boykottierten die drei Lega-Minister in der Regierung sogleich die erste Kabinettssitzung nach der Mattarella-Wahl. Auf dem Programm standen weitere Öffnungsschritte bei der Pandemiebekämpfung: Unter anderem beschloss die Regierung, dass der "Green Pass" (Impfzertifikat) für Geboostete und Genesene ab sofort eine zeitlich unbeschränkte Gültigkeit besitzen soll; außerdem wurde der Fernunterricht an Grund- und Sekundarschulen stark eingeschränkt. Das waren alles Maßnahmen gewesen, die die Lega selbst gefordert hatte; lediglich beim Fernunterricht verlangte Salvini eine noch etwas strengere Regelung. Es war aber offensichtlich, dass die kleine Differenz lediglich ein Vorwand war, um die Sitzung zu schwänzen.

"Keine Kompromisse mehr"

Salvini – der unterdessen positiv auf das Coronavirus getestet wurde – gab eine Order an seine Minister: "Keine Kompromisse mehr." Das verheißt für die kommenden Reformrunden nichts Gutes. Denn in den nächsten Monaten werden noch ganz andere, weit umstrittenere Themen auf dem Tisch der Regierung landen.

Um die zweite und die dritte Tranche aus dem 200 Milliarden Euro schweren EU-Wiederaufbaufonds zu bekommen, muss die Regierung bei den Reformen einen Gang hochschalten. Unter anderem verlangt Brüssel die Verschärfung der Gangart bei der Bekämpfung der Steuerhinterziehung, eine Anpassung der Einheitswerte der Immobilien an die effektiven Marktwerte, neue Sparmaßnahmen sowie diverse Liberalisierungen, namentlich bei den Konzessionen für die privaten Bezahlstrände. Das sind alles Reformen, die für den größten Teil der Lega-Wähler unverdaulich sind.

In Italien müssen also mitten in einem Wahlkampfjahr – im Frühling 2023 wird das Parlament neu gewählt – gleich herdenweise heilige Kühe geschlachtet werden. Die Regierung Draghi hat sich gegenüber der EU verpflichtet, im laufenden Jahr 100 "Milestones" und "Targets" zu verwirklichen, mit denen das Land modernisiert und die Wirtschaft nachhaltig in Schwung gebracht wird. Darunter sind viele Maßnahmen, die auch für andere Parteien Tabuzonen darstellen. Zum Beispiel soll in der öffentlichen Verwaltung und bei den Lehrerinnen und Lehrern das Leistungsprinzip eingeführt werden. Sollten mit Blick auf die Wahlen auch die übrigen Koalitionsparteien plötzlich zum Motto "keine Kompromisse mehr" übergehen, wird Draghis Reformzug wohl oder übel entgleisen.

Eklatanter Personalmangel

Das Erreichen der vereinbarten Ziele ist auch ohne politischen Widerstand schon schwierig genug, nicht zuletzt aus personellen Gründen. Für die Realisierung der zahlreichen Projekte sind unzählige Fachkräfte erforderlich, über die die öffentliche Verwaltung nach jahrelangem Ausschreibungsstopp nicht verfügt.

Ein einfaches Beispiel: Italien müsste 228.000 neue Krippenplätze bereitstellen, um die niedrige Beschäftigungsquote der Frauen zu erhöhen – aber es fehlt an ausgebildeten Betreuerinnen und Betreuern. Ganz zu schweigen von den Heerscharen an Ingenieuren, Technikerinnen und Informatikern, die für die großen Infrastrukturprojekte – Hochgeschwindigkeitsstraßen, Energiewende, flächendeckendes 5G, Big Data usw. – benötigt würden.

Gianni Dominici, Direktor eines Beratungsunternehmens, das die Staatsverwaltung bei der Personalrekrutierung unterstützt, veranschaulicht das Problem: Italien habe in den letzten Jahren wegen bürokratischer Hürden und des Mangels an Fachpersonal jeweils nur gerade 45 Prozent der zur Verfügung stehenden Mittel aus den EU-Strukturfonds ausgeschöpft: etwa sechs Milliarden Euro pro Jahr. Dank des Wiederaufbaufonds stehe nun fast das Zehnfache zur Verfügung, nämlich 50 Milliarden pro Jahr. "Aber so wie die öffentliche Verwaltung derzeit aufgestellt ist – historisch tiefer Personalbestand, hohes Durchschnittsalter, bescheidene digitale Fachkenntnisse und mangelnde Führungskompetenzen –, besteht die Gefahr, dass sie die riesigen finanziellen Ressourcen nicht auf effiziente Art und innerhalb der geforderten Fristen ausgegeben werden können", befürchtet Dominici. (Dominik Straub aus Rom, 3.2.2022)