Das Schwere mit Sprache in Leichtes verwandeln: Erika Burkart.

Foto: Limmat-Verlag

"Fast nichts ist mir geblieben / als Trauer und der Bücher sieben; / die will ich jetzt noch einmal lesen". Stehen solche Verse gleich im ersten, im Auftakt-Poem eines Gedichtbandes, wie 2010 im schmalen Band Das späte Erkennen der Zeichen der Schweizer Dichterin Erika Burkart, dann ist das programmatisch. Eine Konfession. Ein Erkennen. Ein Erkennenwollen, das Leben nochmals erkunden zu wollen. Tiefer. Mit Lektüre. Durch Sprache.

Erika Burkart, "Spiegelschrift. Gedichte – die große Auswahl". Hg. und mit einem Vorwort versehen von Ernst Halter.
40,10 Euro / 336 Seiten. Limmat-Verlag,
Zürich 2022
Foto: Limmat-Verlag

Kein Text, der Burkarts abgelegenen Wohnsitz, das Haus Kapf, unerwähnt ließ. Ihr Vater hatte das recht verkommene Anwesen in Muri, Kanton Aargau, 1920 erworben. Es war einst das Äbtehaus des Klosters Muri am Rand des Murimooses gewesen. Hier betrieb er ein Ausflugsrestaurant. Und wurde bald sein bester Gast. Erika und die geliebte Mutter, die die Familie zeitweise mit Heimarbeit durchbringen musste, litten unter dem, wenn angetrunken, brutalen Vater.

Emotionale Zäsuren

Erika wurde Volksschullehrerin und Vikarin, im Kanton Aargau und in Basel. Bis sie mit 33 Jahren nach einem Herzinfarkt diesen Beruf nicht mehr ausüben konnte. Und sich in Haus Kapf niederließ, wo sie sich auch des wildromantischen Gartens annahm. Da hatte sie schon einige Zeit geschrieben, Gedichte, epigonenhaft spätromantisch umhaucht. Die Droste las sie, den raunend elitären Stefan George. So trugen Burkarts erste Bände denn auch der Zeit entsprechende Titel: Der dunkle Vogel und Bann und Flug und Geist der Fluren.

In den Sechzigerjahren kam dann eine Welt-Rückwendung, das Metaphysische, das verbal Hochfliegende, teils bis in den Kosmos, wurde geerdet. Durch starke emotionale Zäsuren. Wie durch die sich ändernden Zeiten. Reime verschwanden bei ihr.

Damals fand Burkart zu einem für sie charakteristischen Ton, einem Duktus magischer Sachlichkeit, der zwischen Schrecken und Glück scheinbar leicht, dabei komplex hin und her pendelte, zwischen euphorischen und stark melancholischen Zuständen hin und her tanzte. "Wem soll ich sagen, dass in der Nacht / das Funkeln der alten Sterne mich ängstigt / und dass ich verwirrt bin, weil heute ein Tag ist, / der vor tausend Jahren verging."

Erika Burkart, "Schönheit und Schrecken. Sämtliche Gedichte". Digitale kritische Gesamtausgabe, heraus gegeben und kommentiert von Ernst Halter. 79,90 Euro / 3700 Seiten. Limmat-Verlag, Zürich 2022. Nur als E-Book
Foto: Limmat-Verlag

Schweizer Lyrik der Moderne? Da gab es Silja Walter, die Ordensschwester, und Kurt Marti, den Pfarrer aus Bern, den auf Italienisch schreibenden, hierzulande nur peripher gelesenen Tessiner Giovanni Orelli und den großen, auf Französisch dichtenden Philippe Jaccottet, als Lyriker so bedeutend wie als Essayist und Gedanken-Miniaturist, der vor einem Jahr starb und fast sein ganzes Leben in Südfrankreich nahe dem Mont Ventoux lebte.

Und: Es gab Erika Burkart, fragil, öffentlichkeitsscheu, zurückgezogen. "Vor dem Milchglashimmel / die Birke im Mondschnee / hält schwebend sich aufrecht, / als bedürfte es keiner Wurzeln, / um in die Tiefe zu kommen, / wo Schweres leicht wird / aus eigener Kraft."

Mäzenatisch gestützt

Sie ereilte das Schicksal nicht weniger, dass ihre Bücher nämlich seit dem Debüt 1953 bis zu den beiden letzten posthum erschienenen, Das späte Erkennen der Zeichen und Nachtschicht/Schattenzone, in seit langem verschwundenen Verlagshäusern erschienen. 1970, da war sie 48 Jahre alt, erschien ihr erster Roman, Moräne. Der Roman von Lilith und Laurin.

Sie starb am 14. April 2010, nach langer, auszehrender Krankheit. Der sie das Schreiben entgegensetzte, Gedichte wie Meer, in dem es heißt: "Lauschend dem Urlaut der Stille, / hör ich den eigenen Atem und – / fern über den Klippen im Felsenkessel – / das Keuchen, Schmatzen, Toben und Schmettern, / das Lecken der Wellen. Keine kommt an".

Dass die feine Werkauswahl mäzenatisch gestützt wurde, lässt die Hoffnung auf null sinken, dass die 3700 hinreißenden E-Book-Seiten der Sämtlichen Gedichte eines Tages gedruckt vorliegen werden.

Ernst Halter, "Das Alphabet der Gäste. Erinnerungen" 24,– Euro / 336 Seiten. Limbus-Verlag, Innsbruck 2021
Foto: Limbus-Verlag

Und die erzählende Prosa, was ist mit der? Und was mit den drei Aufzeichnungsbänden, dem von 1975, Rufweite, und den noch lieferbaren Grundwasserstrom (2000) und Am Fenster, wo die Nacht einbricht, den ihr langjähriger Gefährte und Mann, der Autor Ernst Halter, 2013 zusammenstellte und herausgab?

Ein schönes Burkart-Passepartout: sein jüngst erschienener Erinnerungsband, der, hochliterarisch, auch eine zärtliche, berührende Hommage an sie, die Sammlerin blauer Gläser etwa, ist.

"Ich fürchte das Leben, so wie es ist – und liebe es, / wie es sein könnte." Das schrieb Erika Burkart am Ende ihres Lebens. Ebenso wie das Gedicht Der Begleiter, in dem man schweigend, staunend dies liest: "hör ich dich flüstern, winkst du mit Zweigen, / bist du unsichtbar, lehrst du / lauschen und schweigen". (Alexander Kluy, ALBUM, 6.2.2022)