Zunehmende Virtualisierung, Singlehaushalte, Arbeit im Homeoffice und fortschreitende Objektivierung des Menschen tragen allesamt zur Vereinsamung bei.

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Es klingt wie schrille Alarmglocken. "Schmerzhaft, ansteckend, tödlich", wie etwa Bestsellerautor Manfred Spitzer aktuell schreibt. Es reicht wohl für einige schlaflose Nächte bei Firmenchefs, wenn sie Umfragen lesen, wonach sich drei von fünf Amerikanern einsam fühlen (Cigna, "Combatting Loneliness", seit 2018) und sie dazu die aktuellen Zahlen der Donau-Uni zu depressiven Symptomen bei rund der Hälfte der Jugendlichen in Österreich studieren.

Alarm oder aufgeblasene Aufregung? Die Wahrheit ist differenzierter, und das Thema ist groß. Zunächst: Einsamkeit ist nicht als Krankheit qualifiziert. Aber: Wer sich einsam fühlt, wird krank. Studien zur sozialen Isolation belegen, dass wer einsam ist, gesundheitsschädlich lebt. Das zeigen etwa Julianne Holt-Lunstad ("Social Relationships and Mortality") und Forschungen der Universitäten Brigham Young und North Carolina, wonach soziale Isolation das Sterberisiko ebenso erhöht wie Alkoholkonsum, Rauchen oder Fettleibigkeit.

Einsame ernähren sich schlechter, haben erhöhten Cortisolspiegel, dadurch verminderte Immunabwehr, haben eher depressive Symptome und Angstattacken, erleben verstärkt Hilflosigkeit. Einsame schlafen auch schlechter, was die Widerstandskraft zusätzlich schwächt. Laut US-Einsamkeitsforscher John T. Cacioppo stecken Einsame auch eher in frustrierenden Jobs fest und fühlen sich durch Corona stärker bedroht.

Keine Seltenheit

Wie verbreitet ist der Einsamkeitsschmerz? Das Corona-Panel der Uni Wien kam im ersten Lockdown 2020 sogar auf rund 43 Prozent Österreicher, die sich an manchen Tagen einsam fühlen. Daten der Diakonie sprechen von konstant etwa 20 Prozent Einsamen.

Die Betroffenheit nach Altersgruppen zeigt eine U-Kurve: hoch bei Jungen, Schülern, Studierenden, Lehrlingen, abfallend in der Lebensmitte, erneut ansteigend im Alter. Wie kann man einsam sein, wenn es dauernd reinbingt im Handy, alle immer auf Social Media verbunden sind, der nächste Mensch praktisch immer nur einen Klick entfernt ist?

In der Forschung erscheinen ganze Ursachenbündel: zunehmende Virtualisierung, Singlehaushalte, Arbeit im Homeoffice, fortschreitende Objektivierung des Menschen in der Konsumgesellschaft, im Job, in allen Lebensbereichen.

Was hilft?

Chronische Einsamkeit, sagt der Grazer Psychiater Michael Lehofer, fühle sich an wie außerhalb des Flusses des Lebens zu stehen, abgeschlossen von der Welt zu sein. Die einzige Möglichkeit, sich zu befreien, sei, "den Fluss des Gebens und Nehmens zu leben". Und mit dem Geben zu beginnen. "Der Geizige wird immer einsam sein", so der Leiter der Psychiatrie am LKH Graz.

Karin Gutiérrez-Lobos, Fachärztin für Psychiatrie am AKH, sieht Strategien gegen zunehmende Vereinsamung als gesellschaftlichen Auftrag: "Es geht um Teilhabe, es ist eine Querschnittsmaterie von Bildung, leistbarem Wohnen bis zum Platz in der Gesellschaft. Einsamkeit auf das Individuelle rückzuführen ist perfid. Ein Strickkurs ist nicht genug." Brauchen wir ein Einsamkeitsministerium, wie 2018 von Theresa May in Großbritannien eingeführt? Gutiérrez: "Das wäre ein Gag."

Alle sind gefragt, sagt Anna Steiger, Vizerektorin der TU Wien. Sie hat ein Alumni-Netzwerk für Ältere etabliert, das Menschen auf dem Weg in ihre Pension mit der Uni verbunden hält, mittels Treffen, mittels Zugang zu Weiterbildung. Solche "Offboarding"-Initiativen etablieren sich nunmehr auch in Unternehmen, mit Beratungen zu ehrenamtlichem Engagement in der Pension, zum Halten des gemeinsamen Austausches, etwa bei regelmäßigen Plaudertreffen.

Wiewohl, so Gutiérez-Lobos: Es sei auch wichtig, Einsamkeit zu erlernen, als die Fähigkeit, "mit sich eins zu sein", was sich aber von chronischer, als Dauerschmerz empfundener Einsamkeit wesentlich unterscheide. Es gehe beim Isolationsschmerz auch nicht um asketische Ideale, um Selbstbeforschung oder darum, geniale Schöpfungsräume in Abgeschiedenheit auszumessen. Sondern – frei nach Adorno – um Isoliertheit und Einkapselung, um Verhärtung gegen sich und die anderen. Da herauszuhelfen sei gesellschaftliche Verantwortung. (Karin Bauer, 5.2.2022)