Nach der Räumung des Protestcamps auf der Schotterwüste nahe der U2- Station Hausfeldstraße hat die Stadt umgehend die Bauarbeiten wiederaufgenommen.

Foto: TOPPRESS / Karl Schöndorfer

Der sturmgepeitschte Himmel wirkt wie eigens in Szene gesetzt: Auf den Regenschauer folgt Sonne, dann ziehen wieder dunkle Wolken auf. Das wechselhafte Wetter untermalt die Stimmung der Menschen vor dem Gitter auf dem kargen Gelände am Wiener Stadtrand: Sie schwankt zwischen Erschöpfung und Kampfeslust.

Ein paar zerstreute Aktivistinnen und Aktivisten halten ihre Handykameras hoch und machen Aufnahmen von dem Feld in der Donaustadt, das bis zum Vortag für viele zu einem zweiten Zuhause geworden war.

Nach der Räumung des Protestcamps auf der Schotterwüste nahe der U2- Station Hausfeldstraße hat die Stadt umgehend die Bauarbeiten wiederaufgenommen. Hat sich das Thema für die Stadt nun erledigt, oder nimmt es jetzt erst richtig an Fahrt auf? Denn inzwischen hat sich die Aktion, die im August mit drei Menschen, die sich auf der Baustelle einem Bagger entgegenstellten, erweitert.

Sie hat sich zur größten Umweltbewegung seit langem ausgewachsen. Getragen wird sie von einem Bündnis mehrerer Gruppen, die sich für den Klimaschutz einsetzen, darunter etwa Fridays for Future (FFF) und Extinction Rebellion (übersetzt: "Rebellion gegen das Aussterben", kurz XR). Sie wollen weitermachen. Lena Schilling, das bekannteste Gesicht des Protests, sagt: "Wir geben ganz bestimmt nicht auf."

Straßenbaupläne der Stadt

Die 21-Jährige engagiert sich politisch, seitdem sie fünfzehn ist: für ein besseres Asyl- oder Bildungssystem, für Frauenrechte, für den Klimaschutz. Als Kind nehmen ihre Eltern sie auf die erste Demo mit – gegen Schwarz-Blau, sie ist damals vier. Seit nahezu zehn Jahren ernährt sie sich vegetarisch, nachdem sie eine Dokumentation über Massentierhaltung gesehen hat.

In der Flüchtlingskrise 2015 betreibt ihre Mutter, eine Sozialarbeiterin, eine Unterkunft. Die Tochter hilft aus. Vor zwei Jahren gründete sie den Wiener Jugendrat, um eine einflussreiche Jugendbewegung aufzubauen, die die eigene Zukunft mitgestalten soll.

Lena Schilling ist das bekannteste Gesicht der Lobau-Bewegung. Hinter ihr arbeiten einen Tag nach der Räumung des Camps in der Hausfeldstraße die Baumaschinen.
Foto: Regine Hendrich

Hier im 22. Bezirk setzt sie sich für die Mobilitätswende ein, konkret rebelliert sie gegen ein großes Bauvorhaben. Die Wiener Regierung möchte mit dem Lobautunnel durch ökologisch hochsensibles Gebiet den letzten Teil des Autobahnrings um die Hauptstadt schließen. Daran hängen indirekt weitere Straßenvorhaben, in weiterer Folge große Stadtteilentwicklungen.

So soll die Seestadt Aspern von der Stadtstraße angesteuert werden. Die Stadt spricht von tausenden leistbaren Wohnungen. Für Gegnerinnen und Gegner steht das Milliardenprojekt den Klimazielen diametral entgegen. Die grüne Umwelt- und Klimaschutzministerin Leonore Gewessler legte das Vorhaben Lobautunnel auf Eis. Die Stadtstraße selbst ist ein Wiener Projekt.

Halterungen für Banner

Im Rathaus grollte man und kündigte rechtliche Schritte an. Im Protestcamp in Transdanubien wurde die Entscheidung Gewesslers gefeiert. Als Nächstes, so ihre Hoffnung, solle der Stadtstraße ein Ende gesetzt werden. Am vergangenen Dienstag beendete die Polizei die Besetzung von "Grätzl vier". Es war die vierte Baustelle entlang der geplanten Stadtstraßen-Route, die Aktivistinnen und Aktivisten im Spätsommer gekapert hatten.

Sie liegt einige Kilometer westlich des ersten Camp-Grätzls nahe der Südosttangente bei Hirschstetten. Für das trockene und steinige Areal hat sich der Begriff "Wüste" eingebürgert. Eigentlich hätten dort schon seit September Bagger, Walzen und Muldenkipper werken sollen. Doch die Fahrzeuge waren in Beschlag genommen und zu Halterungen für weithin sichtbare Banner mit klaren Botschaften umfunktioniert worden.

Baumrodungen

Eines von ihnen liegt heute verdreckt im Gatsch. Ein altes Plakat mit der Aufschrift "Besetzung der Baustelle notwendig" hängt auf dem Bauzaun, direkt neben dem neuen Schild, auf dem vor dem Betreten der Baustelle gewarnt wird. Die Stadt will nun zügig Tatsachen schaffen. Man habe reichlich Zeit verloren, "die wir nun versuchen aufzuholen", sagt Thomas Keller, Leiter der Abteilung Straßenbau (MA 28).

Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) betont stets, er lasse sich nicht von "einigen wenigen Personen" von dem langjährig geplanten und genehmigten Projekt abbringen. Parallel zur Räumung wurden bereits Bäume entlang der Trasse gerodet, 210 von 380 Bäumen fielen bis Mittwoch. Die Aktivistinnen und Aktivsten hatten versucht, die Rodung zu verhindern – vergeblich. Tags darauf hebt sie ein Kran in eine riesige Häckselmaschine.

Das angemeldete Protestcamp in der Anfanggasse auf einer Aufnahme von September. Hier sind keine Bauarbeiten vorgesehen.
Foto: Heribert Corn www.corn.at

Davor steht Lena Schilling und schaut etwas ungläubig dabei zu, wie das geschredderte Holz in einem Lastwagen landet. Sie sagt, sie habe nach dem Polizeieinsatz viele weinende Menschen im Arm gehalten. Nun verspürten sie gehörige Wut im Bauch.

Winterfester Protest

Und die treibe sie nun auch an. "Der Kampf für die Lobau ist zu einem großen Bestandteil meines Lebens geworden", sagt Schilling. Die vergangenen fünf Monate über hat sie stets mehrere Tage die Woche im Camp verbracht. Dieses besteht heute aus zwei Standorten: aus dem Zeltlager in der Anfanggasse – das Quartier, das auf einer Grünfläche liegt, hat Schilling angemeldet; es ist nicht für Bauarbeiten für die Stadtstraße vorgesehen.

Und der besetzten Baustelle bei der Hirschstettner Straße, die sich laut der Asfinag noch bis zumindest Mitte März in Winterpause befindet – vorerst sei kein Einschreiten geplant. Eine gewisse Anzahl an Demonstrierenden ist immer anwesend. Wer wo die Stellung hält, rotiert.

Wobei manche ab und zu kommen, andere mehrmals die Woche und einige so häufig, dass sie ihre Wohnung gekündigt haben. Die nasskalte Jahreszeit vertrieb die Menschen nicht. Die Aktivistis, wie sich manche selbst nennen, brachen die Zelte nicht ab, sondern machten sie winterfest. Sie bauten Hütten und Schlafkojen, stellten zweistöckige Holzgebäude auf.

Ein Leben für den Klimakampf

Eines davon war die "Pyramide", das Herzstück der "Wüste". Als die Baggerschaufel sie niederriss, "hat das sehr wehgetan", erzählt Anna Kontriner. Sie ist 25, Lektorin und zwei- bis dreimal die Woche in der Donaustadt. Sie beschäftige sich schon länger mit der Klimakrise.

Als sie einmal, kurz vor Ausbruch der Pandemie, einen Vortrag hörte über Kipppunkte und darüber, dass es für die Klimarettung eigentlich bereits zu spät sei, habe sie das "ziemlich deprimiert". Später, an einem Morgen im September des Vorjahres, sei sie auf dem Weg in die Arbeit an einem Plakat der Klimabewegung XR vorbeigeradelt.

Sie habe sich informiert und Gefallen gefunden an deren Ansatz des zivilen Ungehorsams. Rosa Parks, die Suffragetten, die Proteste in der Hainburger Au nennt sie als Beispiele. "Historisch gesehen hat ziviler Ungehorsam viel geändert, das hat mich also beeindruckt."

Aktivistinnen und Aktivisten in der "Wüste" im Oktober (von rechts nach links): die XR-Mitglieder Anna Kontriner, Moritz Kramer, Florian Mayr und eine Musikerin, die auch "Waldfee" genannt wird.
Foto: Anna Giulia Fink

Zwei Möglichkeiten

Immer mehr Leuten sickere inzwischen, "dass die persönliche Lebensführung oder Petitionen zu unterschreiben allein nichts verändert". Akzeptiere man das, dann gebe es zwei Möglichkeiten: "Man kann frustriert sein und resignieren, oder man überlegt, welchen anderen Weg man gehen kann."

Ähnlich sieht es auch Moritz Kramer. Der 23-Jährige ist Verkäufer in einem Bioladen sagt, er versuche schon lange, so nachhaltig wie möglich zu leben, weil er mit seinem Konsum und seinem Handeln "nicht ein Teil davon sein will, den Planeten zu zerstören".

Inzwischen habe er "einen Shift vollzogen vom rein privaten Verhalten auf die politische Ebene". Die Solidarität, die innerhalb der Bewegung vorherrsche, sei etwas Besonderes, sie gebe Kraft. "Allein hätte ich die nicht, um mich diesem riesigen politischen Komplex zu stellen." Über die Bewegung sei er nun hier in der Donaustadt gelandet, wo es weniger darum gehe, gegen etwas zu kämpfen als für etwas: "eine lebenswerte Zukunft".

Es ist eine Sicht auf die Welt, die sich in vielen Köpfen, vor allem jenen der jungen Bevölkerung rund um den Globus, verfestigt hat. Seit über 40 Jahren warnen Wissenschafterinnen und Wissenschafter davor, dass die Erde ohne Maßnahmen auf eine Katastrophe zusteuert. Die Auswirkungen des Klimawandels sind inzwischen auch in unseren Breitengraden deutlich spürbar.

Als die Schwedin Greta Thunberg vor drei Jahren ankündigte, für den Klimaschutz die Schule zu streiken, begründete sie damit eine weltweite Bewegung. Seither haben sich viele Menschen – vorwiegend junge, aber nicht nur – dazu entschlossen, ihr Leben dem Kampf gegen die Klimakrise zu widmen.

Hausaufgaben und Klimarettung

Die Menschen hier in den Protestquartieren gehen Berufen nach, sie studieren, manche besuchen noch die Schule. Sie kommen in ihrer Freizeit her, manche mit ihren Eltern. Die Camps sind auch ein hybrider Arbeitsort, wo Homeoffice betrieben wird, Uniarbeiten und Hausaufgaben geschrieben werden. Und sie planen Aktionen, bespielen ihre Kommunikationskanäle, halten ihre Homepage auf dem aktuellsten Stand, kreieren Zeitungen.

DER STANDARD

Vorträge finden ebenso statt wie Workshops über den richtigen Umgang mit Feuerlöschern und über Deeskalationstaktiken bei Demonstrationen. Sie stellen Konzerte auf die Beine, Fußballturniere, Kindermusicals, streamen Videos, kochen und musizieren gemeinsam.

All das findet Corona-konform statt, wie betont wird. Für eine Rebellion geht es hier überhaupt ziemlich gesittet zu. Alkohol und Drogen sind verboten, schon aus Sicherheitsgründen. "Das ist hier noch immer eine politische Versammlung und keine Party", sagt Anna Kontriner. Die Stadt berichtete von Beschwerden über Lärm und Schmutz.

Gutes Verhältnis mit Anrainern

Die Aktivisten sagen, wenn es mal ein Problem gegeben habe, dann sei dies meist mit einem Gespräch aus der Welt geschafft worden. Das Verhältnis zu den Anrainerinnen und Anrainern wird als gut beschrieben: Viele von ihnen bringen Wasser, Strom und Lebensmittel vorbei, bieten Wohnungen zum Duschen und für Übernachtungen an.

Die Protestaktion findet freilich nicht nur Zustimmung. Ab und zu kämen Leute zum Pöbeln vorbei, erzählt Kontriner. Zu Silvester brannte im Camp in der Nähe der Blumengärten Hirschstetten eine Holzhütte ab. Die Polizei geht von Brandstiftung aus. Die Hütte wurde wiederaufgebaut.

Seither kam zu den bereits bekannten Slogans folgender hinzu: "Häuser brennen, Träume nicht". Dieser Tage wird auf den Camps das weitere Vorgehen geplant. Für mehrere Aktionen laufen die Vorbereitungen auf Hochtouren. Die Stadtregierung habe mit ihrer harten Haltung den Zorn einer ganzen Generation auf sich gezogen, sagt Schilling. Fünf Jahre Bauzeit hat die Stadt für das Straßenprojekt veranschlagt. Ebenso lange werde der Protest anhalten. (Theo Anders, Anna Giulia Fink, David Krutzler, 6.2.2022)