Infolge eines Streits um den Status ihrer Region nach dem Austritt des Vereinigten Königreiches aus der EU stehen den Nordirinnen und Nordiren vorgezogene Neuwahlen ins Haus. Nach dem Rücktritt des Belfaster Chefministers Paul Givan von der protestantisch-unionistischen DUP machte deren Parteichef Jeffrey Donaldson am Freitag deutlich: Eine Rückkehr in die Regionalregierung komme für seine Partei nur infrage, wenn das sogenannte Nordirland-Protokoll abgeschafft wird. "Die britische Regierung und die EU wissen, was sie zu tun haben", teilte der Unterhausabgeordnete der BBC mit.

Mit dem Rücktritt des Belfaster Chefministers Paul Givan wurde eine Regierungskrise ausgelöst, die wohl in vorgezogene Wahlen mündet.
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Bisher sollte die Neuwahl im Mai, zeitgleich mit den Kommunalwahlen in England, vonstattengehen. Die größte katholisch-nationalistische Partei Sinn Féin (SF) forderte umgehende Neuwahlen; durch Givans Rücktritt verlor gemäß den Statuten der Allparteienregierung automatisch auch die SF-Vizeregierungschefin Michelle O’Neill ihr Amt. Hingegen üben die Ressortminister der beiden Rivalen sowie dreier kleinerer Parteien ihre Ämter weiterhin aus. Der britische Nordirland-Minister Brandon Lewis forderte Givan zur Rückkehr auf seinen Posten auf. Sollte diese nicht erfolgen, könnte der Minister die Wahl um wenige Wochen auf März vorziehen.

Mehrheitsverlust droht

Die Verzweiflungstat der größten Unionistenpartei löste in London und Dublin Kopfschütteln aus. Allen Umfragen zufolge wird die DUP bei der Wahl ihren hauchdünnen Vorsprung vor SF einbüßen; womöglich könnte ihr sogar die konfessionsübergreifende Allianzpartei den zweiten Platz streitig machen. Erstmals in der 101-jährigen Geschichte Nordirlands würde dann eine Vertreterin der katholischen Bevölkerungsgruppe an der Spitze stehen. Allerdings wäre zur Bildung einer neuen Regierung die Mitwirkung die DUP nötig. Das würde "schwierig" werden, sagte Donaldson, wenn nicht das Protokollproblem gelöst würde. Offenbar will der 59-Jährige seine Partei in die Fundamentalopposition zurückführen, in der sie unter dem legendären Parteigründer Ian Paisley einst groß geworden war.

Die DUP steht vor den Trümmern ihrer Brexit-Politik. Als einzige der größeren Parteien Nordirlands hatte die aus einer fundamentalistischen Sekte hervorgegangene Gruppierung 2016 für den EU-Austritt des Landes geworben; hingegen votierte eine Mehrheit (56 Prozent) für den Verbleib im Brüsseler Klub. Alle Kompromissideen der konservativen Premierministerin Theresa May scheiterten am Widerstand der zehn DUP-Abgeordneten, die zwischen 2017 und 2019 im Unterhaus als Zünglein an der Waage fungierten. Nach seinem triumphalen Wahlsieg vor gut zwei Jahren ignorierte Premier Boris Johnson alle Einwände der Unionisten und einigte sich mit Brüssel auf das sogenannte Nordirland-Protokoll.

Dokument zur Regelung offener Grenze

Diese Vereinbarung ist Teil des britischen EU-Austrittsvertrages. Sie soll die Landgrenze zur Republik im Süden offenhalten, aber gleichzeitig die Integrität des Binnenmarktes gewährleisten. Deshalb wurden zwischen Nordirland und der britischen Hauptinsel Zoll- und Einfuhrkontrollen fällig. Man habe die Vereinbarung in einem Moment der Schwäche getroffen, hieß es bald in London. Hingegen pocht Brüssel auf die Einhaltung geltenden Völkerrechts.

Wie die Vereinbarung gehandhabt werden könne, darüber verhandeln seit Monaten EU-Vizekommissionschef Maroš Šefčovič sowie, nach dem Rücktritt des früheren Chefverhandlers David Frost, die britische Außenministerin Liz Truss. Die zunächst äußerst penibel vorgehende EU verhält sich neuerdings pragmatischer, legte zudem im Herbst eine Reihe von Zugeständnissen auf den Tisch, die London jedoch als unzureichend bezeichnete. Für kommenden Freitag ist ein neues Treffen der beiden Verhandler vorgesehen.

Die nordirische Wirtschaft erleide täglich Schaden durch das Protokoll, behauptet Donaldson. In Wahrheit profitiert der britische Zipfel der Grünen Insel von seiner einzigartigen Doppelmitgliedschaft im EU-Binnenmarkt und der britischen Zollunion: Keine Region des Königreichs hat sich so gut von den Pandemie-Folgen erholt wie Nordirland. (Sebastian Borger, 4.2.2022)