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Unter Karl Nehammer schien so etwas wie eine neue Normalität eingekehrt zu sein, die Gesprächsbasis ist besser, als sie je mit Kurz war. Jetzt steht das Verhältnis erneut zur Diskussion.

Foto: AP Photo/Lisa Leutner

Die schwarzen Landeshauptleute haben sich dieser Tage rege ausgetauscht. In der ÖVP macht sich zarte Nervosität breit – insbesondere in Niederösterreich. So wird das auch in der ÖVP selbst erzählt. Die Unruhe entstand allerdings nicht aufgrund der bekanntgewordenen koalitionären Nebenabsprachen, der Sideletter, die unter ÖVP-Chef Sebastian Kurz ausgearbeitet worden waren.

Vielmehr geht es um das Corona-Management der Bundesregierung – und die Auswirkungen auf kommende Gemeinderats- und Landtagswahlen. In Waidhofen an der Ybbs, einem niederösterreichischen Städtchen, verlor die ÖVP am vergangenen Sonntag ihre absolute Mehrheit, während die impfkritische Partei MFG mit 17 Prozent auf Anhieb Platz drei eroberte. Womöglich ein Omen für Ladeswahlen?

Drohkulisse U-Ausschuss

Dazu kommt noch etwas, das einigen Schwarzen schon länger Bauchweh bereitet: Im März startet der parlamentarische U-Ausschuss zum Thema ÖVP-Korruption. In der Opposition sind viele sicher: Die Volkspartei wird ihn abdrehen wollen – vor allem das schwarze Niederösterreich, das seit Jahrzehnten fast durchgehend das Innenministerium fest in der Hand hat.

Denn Vorgänge im Innenressort werden in dem parlamentarischen Kontrollgremium häufiges Thema sein. Um den U-Ausschuss abzudrehen, gäbe es aber de facto nur eine Möglichkeit: Neuwahlen. Und so entstehen derzeit viele Gerüchte.

Vizekanzler und Grünen-Chef Werner Kogler war in seiner Partei schon besser angeschrieben, als er es diese Woche ist. Stichwort: Sideletter.
Foto: APA / Herbert Neubauer

Gleichzeitig sind die Grünen aktuell eine Mischung aus erschöpft und zerrüttet. Der türkis-grüne Sideletter ist zwar deutlich weniger detailliert als jener, den ÖVP und FPÖ einst ausgefertigt hatten. Den kleinen Koalitionspartner trifft die verbriefte Geheimabrede aber mitten ins Mark. Schließlich verstehen sich die Grünen als Transparenzpartei. Auch das innerkoalitionäre Klima leidet an der Veröffentlichung des Papiers: Die Grünen sind überzeugt, jemand aus der verbliebenen Truppe von Kurz hat das Dokument an Medien gespielt – also jemand aus der ÖVP.

Könnte in Österreich also tatsächlich dieses Jahr eine Nationalratswahl anstehen? Wer verfolgt hier welche Interessen? Welche Partei kämpft mit welchen Problemen? Kurzum: Wie geht es politisch weiter?

Die ÖVP: Inmitten vieler Interessen

Ende Februar stehen in Tirol Gemeinderats- und Bürgermeisterwahlen an. 2023 wird es für die Volkspartei dann so richtig spannend: Mit Niederösterreich, Tirol und Salzburg wird in drei ÖVP-Kernländern der Landtag neu gewählt. Die Wahl in Kärnten ist da eher ein Nebenschauplatz. Aber ansonsten gilt es, die schwarze Macht zu verteidigen.

Kanzler und ÖVP-Chef Karl Nehammer hat die Aufgabe, dafür auf Bundesebene den Boden zu ebnen – oder ihn zumindest nicht aufzuwühlen. Auf den U-Ausschuss hat er zwar keinen direkten Einfluss. Was dort noch aufkommen könnte, birgt aber Sprengkraft bis hin zur Auflösung der Bundeskoalition, wenn die ÖVP zu sehr Schaden nehmen sollte – und dadurch wichtige Wahlerfolge in den Ländern gefährdet würden.

Manche, wie die niederösterreichische Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner, sehen die Probleme ganz pragmatisch: Das Ungeschick der Regierung in der Corona-Bekämpfung vergrämt Wählerinnen – mehr als die Diskussion über Sideletter.

Mikl-Leitner ärgert sich wie andere Landeshauptleute über die unprofessionelle Vorbereitung der Impfpflicht im Gesundheitsministerium. Sie hat Nehammer schon eindringlich gebeten, vehementer auf Wolfgang Mückstein einzuwirken, um dieses Problem endlich in den Griff zu bekommen.

Denn mit der täglich neu befeuerten Debatte über die Impfpflicht verliere die Volkspartei spürbar Wähler – an die FPÖ, aber ebenfalls an die neue Partei MFG, die im kommenden Jahr auch bei den Landtagswahlen antreten will und die ÖVP in Niederösterreich die absolute Mehrheit kosten dürfte.

Neuausrichtung Nehammers

Darüber hinaus stellt sich die Frage, wie sich Nehammer inhaltlich positionieren wird, wenn die Corona-Krise nicht mehr im Fokus steht. Auch die Antwort darauf wird für die Koalition entscheidend sein – schließlich, so vermuten es manche Grüne, könnte er in Migrationsfragen wieder den Hardliner geben. Für die kommenden Wochen und Monate birgt das Thema jedoch vermutlich noch keinen Sprengstoff. Das könnte eher der Fall werden, wenn es wärmer wird und auch wieder mehr Flüchtlinge erwartet werden.

Bundeskanzler Karl Nehammer arbeitet mit einer nicht ganz einfachen Sorte Mensch zusammen: Landeshauptleute mit bevorstehenden Landtagswahlen.
Foto: Imago / Chromorange / Franz Perc

Neuwahlen wären 2022 aber eigentlich nur im Frühsommer wirklich denkbar. Denn im Herbst steht die Bundespräsidentschaftswahl an, ein Nationalratswahlkampf zur gleichen Zeit wird von allen Parteien ausgeschlossen. Das bedeutet: Sollte die Koalition für Neuwahlen gesprengt werden, müsste das spätestens im Frühjahr passieren, damit sich mit allen Fristen eine Nationalratswahl überhaupt zeitgerecht ausgehen würde.

Die Grünen: Eine harte Zeit für Kogler

Viele Grüne stecken derzeit in einem Dilemma. Sie sind – in unterschiedlicher Graduierung – sauer auf Parteichef Werner Kogler. Von der Parteispitze wird Geschlossenheit eingefordert, man dürfe jetzt keine Schwäche zeigen und sich nicht auseinanderdividieren lassen. Kritische Stimmen sind unerwünscht. Das empfinden viele bereits als Maulkorb.

Nur wenige Funktionärinnen, etwa die Abgeordneten Faika El-Nagashi, Ewa Ernst-Dziedzic oder Viktoria Spielmann in Wien, trauen sich noch, offen Kritik an der Parteiführung zu üben. Die meisten halten sich daran: Jede Ablenkung vom U-Ausschuss, in dem die Korruptionsvorwürfe gegen die ÖVP ausgebreitet werden sollen, ist unerwünscht.

Intern gehen die Wogen aber hoch. Von Verrat und Lüge ist die Rede. Kogler habe die Partei und die Basis getäuscht, als er mit Sebastian Kurz neben dem Regierungsübereinkommen den geheimen Sideletter unterschrieb. Dass es einen solchen Sideletter geben würde, war allen klar.

Die Annahme war aber, dass hier personelle Weichenstellungen festgelegt wurden. Dass Kogler auch inhaltliche Vereinbarungen traf, überraschte viele dann doch. Besondere Empörung herrscht über das Kopftuchverbot, das die Grünen strikt nicht wollten, das in diese Zusatzvereinbarung aber hineingeschrieben wurde.

Letztendlich ist es aber eine sehr kleine Gruppe innerhalb der Grünen, die Kogler scharf anschießt. Intern zehrt er immer noch davon, den Rücktritt von Kurz erreicht zu haben. Das rechnen ihm die Seinen hoch an, und im Vergleich dazu fällt die Geheimniskrämerei um den Sideletter deutlich leichtgewichtiger aus. Die Abgeordnete El-Nagashi, bei den Grünen auch Bereichssprecherin für Integrations- und Diversitätspolitik, berichtet von "Verunsicherung, Irritation und Wut". Man werde der ÖVP aber nicht den Gefallen tun, sich an ihrem Sideletter-Leak zu zerreiben.

ÖVP und Grüne: Ein schwieriges Verhältnis

Denn noch größer als der interne Gram, den einige Grüne verspüren, ist der Zorn über die ÖVP. Oder besser gesagt: Teile der ÖVP. Nämlich jene Teile, die noch türkis sind und sich Sebastian Kurz zugetan fühlen. Den türkis-grünen Sideletter hätten sie gezielt an die Öffentlichkeit gespielt, um Kogler zu diskreditieren, sind bei den Grünen alle überzeugt. Das Motiv liege klar auf der Hand: Rache. Schließlich war es Kogler, der Kurz schlussendlich zu seinem Rückzug zwang.

Dieses Vorgehen hatte das Verhältnis Grüne und ÖVP nachhaltig beschädigt. Gerade unter Karl Nehammer schien so etwas wie eine neue Normalität eingekehrt zu sein, die Gesprächsbasis ist besser, als sie je mit Kurz war. Man muss sich nicht mögen, um professionell miteinander arbeiten zu können, ist das gelebte Motto. "Die Liebe zu uns ist erkaltet, aber jetzt werden wir wenigstens respektiert", sagt ein Grüner.

Jetzt steht das Verhältnis erneut zur Diskussion: Die Grünen fordern von Nehammer Klarheit ein, wie er zu Kurz steht. Und wie er den Vertrauensbruch mit dem Sideletter zu ahnden gedenkt. Die Grünen fordern auch unmissverständlich, dass Johannes Frischmann, früher Pressesprecher von Kurz, und Gerald Fleischmann, der Medienbeauftragte des Kanzlers, aus ihren Positionen im türkisen Parlamentsklub entfernt werden. Beide haben dort nach Kurz’ Abgang Unterschlupf als Referenten gefunden.

Schlummernde Granaten?

Den Ruf nach einer Ablöse der beiden hat man in der ÖVP gehört – und ist verärgert. Dass sich der Koalitionspartner in die Personalpolitik des anderen einmische, gehe gar nicht. Außerdem seien beide geschätzte und langjährige Mitarbeiter, zudem Familienväter, die auf einen Job angewiesen sind. Und Kurz selbst will man wohl auch nicht so ultimativ verärgern, indem man seine Vertrauten demonstrativ auf die Straße setzt.

Das Verhältnis zu den Grünen bleibt angespannt, aber in der Bedrängnis, in der die ÖVP ist, gibt man wohl nicht die Tonlage vor. In unveröffentlichten Chats sollen gerüchteweise noch ein paar Granaten schlummern.

Wahlspekulationen: SPÖ wittert Chance

Eigentlich wäre es aus Sicht der ÖVP klar: keine Neuwahlen, nicht in der derzeitigen Situation. Man würde nicht nur deutliche Stimmverluste hinnehmen müssen, das zeigen sämtliche Umfragen – womöglich würde die SPÖ der Volkspartei sogar den ersten Platz wegnehmen. Auch die schwarzen Bundesländer haben somit an sich keinerlei Interesse an vorgezogenen Wahlen im Bund.

Niemand will mit dem Dämpfer eines satten Minus in den Wahlkampf auf Länderebene ziehen. Und es sei für alle sinnvoll, einen zeitlichen Abstand zur Impfpflicht zu gewinnen, die in jedem Wahlkampf eine Rolle spielen und die ÖVP entscheidende Stimmen kosten könne. So weit ist das nachvollziehbar.

SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner hofft auf baldige Wahlen.
Foto: APA / Georg Hochmuth

Aber: Da niemand weiß, was der Untersuchungsausschuss noch zutage fördert, kann es noch wesentlich schlimmer werden, als es jetzt schon ist. Und das könnte eine Dynamik erzeugen, in der diese Logik nicht mehr gilt, wo Neuwahlen plötzlich ein Ausweg wären, weil sie den U-Ausschuss eben stoppen.

Daran könnte auch Niederösterreichs Landeshauptfrau Mikl-Leitner ein Interesse haben. Ihr könnte es angenehmer sein, einen klaren Verlust auf Bundesebene hinzunehmen, als dass ihr selbst als ehemaliger Innenministerin die Chatnachrichten von Michael Kloibmüller, der auch ihr Kabinettschef war, um die Ohren fliegen.

Von einem solchen Szenario geht man in der SPÖ aus. Dort glauben Parteichefin Pamela Rendi-Wagner und viele andere Funktionäre fix an Neuwahlen noch in diesem Jahr – und wünschen sich das auch. Wobei dafür in der SPÖ zuerst natürlich endgültig geklärt werden müsste, wer die Partei in die kommende Wahl führen soll. Diese Unsicherheit stresst auch so manche Strateginnen und Strategen in anderen Parteien – mit der SPÖ ließen sich schwer Pläne für die Zukunft machen, man wisse schließlich nicht, mit wem sie zu schmieden seien.

Die Grünen werden die Koalition jedenfalls nicht von sich aus platzen lassen, das steht fest. Sie haben keinerlei Interesse an Neuwahlen, glauben auch nicht daran. Die Legislaturperiode fertig machen, stabilisieren, sich etablieren, einer in die Enge getriebenen ÖVP noch möglichst viele Zugeständnisse abringen, das ist das Ziel der Vordenkerinnen in der Partei. Und, so sagen manche: Das Führungsteam vielleicht etwas breiter aufstellen – um nicht auf Kogler als einzigen möglichen Spitzenkandidaten angewiesen zu sein. (Katharina Mittelstaedt, Michael Völker, 5.2.2022)