Der Moment des unmöglichen Triumphes: "O mein Gott, ich habe Gold", dachte der sichtlich verdutzte Steven Bradbury, nachdem seine Kontrahenten allesamt gestürzt waren.

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Bradbury staubte Olympiagold ab. Shorttrack-Legende Apolo Ohno rettet im Hintergrund Silber.

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Steven Bradbury saß am 16. Februar 2002 in der Kabine des Salt Lake Ice Center und hatte "die Hosen voll". Der Shorttracker hatte kurz zuvor Olympiagold über 1.000 Meter geholt. Aber während sein Team das erste australische Gold bei Winterspielen feierte, quälte Bradbury das schlechte Gewissen. "So viel Glück hatte vermutlich noch kein Olympiasieger zuvor. Durfte ich die Goldmedaille überhaupt annehmen?"

Der Außenseiter

Der 28-Jährige war als klarer Außenseiter zu den Spielen 2002 angereist. Für ihn galt: Dabei sein ist alles. Den Vorrundenlauf gewann er, dann kam das Viertelfinale: Vier Starter, die besten zwei kommen weiter. Bradbury fuhr als Dritter über die Ziellinie und dachte, er sei ausgeschieden.

Aber Shorttrack ist eine umkämpfte Sportart. Während der große Bruder Eisschnelllauf auf einer 400-Meter-Runde ausgetragen wird, ist die Shorttrack-Bahn nur 111,12 Meter lang, aber eigentlich kurz – daher der Name. Die Athleten sind im Pulk ständig in brenzlige Positionskämpfe verstrickt. So auch im Viertelfinale: Der 14-malige kanadische Weltmeister Marc Gagnon wird nachträglich disqualifiziert, weil er einen Kontrahenten regelwidrig behindert hatte. Bradbury rückt ins Semifinale nach.

Die Taktik

Dieses fand am selben Tag statt. Bradbury wusste, als drittältester Teilnehmer standen seine Chancen über die neun Runden schlecht. Also gab ihm seine chinesische Trainerin Ann Zhang die Taktik mit: als Schlusslicht hinterherskaten und auf Stürze der Gegner hoffen. 50 Meter vorm Ziel war Bradbury Letzter. Dann stolperte Titelverteidiger Kim Dong-sung. Und in der Zielkurve räumten sich zwei Läufer gegenseitig ab. Bradbury staubte ab und fuhr als Zweiter im Fünferfeld ins Ziel – und ins Finale.

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Olympiasieger Bradbury.
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Vor diesem wurde Bradbury übermütig. Er wollte von Anfang an vorne mitmischen. Seine Trainerin hielt ihn davon ab: "Du hast keine Chance." Das lag auch an der Konkurrenz: Neben Bradbury standen US-Goldhoffnung Apolo Ohno, der zehnfache Weltmeister Li Jiajun aus China und der kanadische Dreifachweltmeister Mathieu Turcotte im Endlauf. Dazu Ahn Hyun-soo, der 2006 und 2014 sechsmal Gold für Korea und Russland holen sollte. Kurzum: Bradbury kämpfte als Normalsterblicher gegen die Avengers.

Sturzorgie

Er blieb seiner Taktik treu. Bradbury machte es sich von Anfang an hinten gemütlich und sah sich den erbitterten Kampf vor ihm an. Als er später in einer Talkshow gefragt wurde, ob er drei Runden vor Schluss noch an eine Medaille dachte, antwortete der Australier: "Nein, an meine Fußschmerzen. Und dass ich wahrscheinlich Fünfter werde." Er fiel 15 Meter hinter das Spitzenquartett zurück. Die Zeitung USA Today beschrieb ihn als "Schildkröte hinter vier Hasen".

Dann kam wieder die letzte Runde. Die letzte Kurve. "Als Erstes sah ich Jiajun fallen, und ich dachte mir, okay, jetzt bin ich Vierter, nicht wirklich besser als Platz fünf", erinnert sich Bradbury. "Dann ging es verdammt schnell." Hyun-soo rutschte im Dreikampf weg und riss Ohno und Turcotte mit. Plötzlich war die Bahn frei für Bradbury. "Ich dachte mir: ‚O mein Gott. Ich habe Gold.‘"

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Hyun-soo (Mitte) räumt Ohno (links) und Turcotte (rechts) ab.
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Während sich seine Widersacher am Eis krümmten, fuhr der Australier völlig verdutzt über die Ziellinie: "Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte, ob ich jubeln oder mich verstecken sollte." Erst ein paar Meter später reißt er die Arme ungläubig in die Luft. Er ist Olympiasieger! Der erste der südlichen Hemisphäre bei Winterspielen.

Das schlechte Gewissen

Aber da war eben dieses schlechte Gewissen: "Es fühlte sich einfach nicht richtig an." 2018 schrieb er in einem Essay über die "Medaille, die ich schwer akzeptieren konnte: Ich würde nicht nochmal aufs Podium steigen. Ich würde mich daneben hinstellen und die Goldmedaille dort empfangen."

Warum er damals trotzdem aufs Podium stieg? Erstens, und das sei hier betont, weil er an diesem Tag als Erster über die Ziellinie fuhr und ihm Gold rechtmäßig zustand. Zweitens: Natürlich war ihm dabei das Glück hold, aber das war nicht immer so in seiner Karriere.

Schwere Momente

Bei den Olympischen Spielen 1994 gewann er zwar mit der australischen Staffel Bronze über 5.000 Meter und damit die erste australische Wintersportmedaille überhaupt. Im Einzel über die 1.000 Meter begrub jedoch ein Sturz die Chancen des Mitfavoriten.

Bei einem anderen Rennen im selben Jahr schlitze ihm die Kufe eines gegnerischen Schlittschuhs den Oberschenkel auf. Bradbury verlor vier Liter Blut. "Ich wusste, wenn ich jetzt bewusstlos werde, bin ich tot." Er blieb wach. Die Wunde wurde mit mehr als 100 Stichen genäht.

Olympia 1998: Nach einer Lebensmittelvergiftung und erneuten Stürzen ist sein Abenteuer in Nagano, Japan, schon im Vorlauf beendet. Im September 2000 krachte er im Training gegen die Bande und brach sich zwei Halswirbel. Ärzte legten ihm das Karriereende nahe. Aber Bradbury wollte noch einmal Olympia erleben.

Olympics

An all diese Rückschläge dachte Bradbury, als er am 16. Februar 2002 zum Podium schritt. "Ich war nicht der beste Eisläufer an diesem Tag. Ich werde die Medaille nicht für das eineinhalbminütige Rennen annehmen, sondern für die letzten 14 Jahre, in denen ich sechs Tage pro Woche fünf Stunden täglich trainiert habe. Ich habe diese Medaille verdient." Und als die australische Hymne ertönte, konnte er den Coup auch erstmals genießen.

Nationalheld

Kurz darauf war er zu Gast in der Talkshow des australischen Comedy-Duos Greig Pickhaver und John Doyle. Ersterer sagte: "Du warst fast zwölf Jahre in den Top Ten. Da war es doch an der Zeit, dass du mal ein bisschen Glück…". Bradbury unterbrach ihn und musste selbst lachen: "Ein bisschen?"

Gefeierter Talkshowgast.
BoomerBaz1

In seiner Heimat wird Bradbury zum Nationalhelden. Die Post widmete ihm eine Briefmarke. Der Gefeierte beendet nach den Spielen seine Karriere, versucht sich im Motorsport. Heute arbeitet der mittlerweile 48-Jährige als Motivationstrainer und Moderator. Zudem agiert er als Direktor des australischen Wintersportinstituts, das Athleten und Athletinnen auf ihren Olympia-Auftritt vorbereitet. 20 Jahre nach seinem Überraschungserfolg kommentiert Bradbury für den Fernsehsender 7news fachkundig die Shorttrack-Bewerbe in Peking.

Und vielleicht bringt er seinen Landsleuten ja Glück und sie "machen einen Bradbury" – die Redewendung hat es schon vor Jahren ins australische Wörterbuch geschafft und gilt als Synonym für den Erfolg eines krassen Außenseiters. "Ich glaube, wenn du deine Mitmenschen korrekt behandelst und wirklich hart arbeitest, kommt irgendwann das Karma zurück", sagt Bradbury, der seine Erlebnisse in einer Biografie verarbeitet hat. Deren Name: Last Man Standing. (Andreas Gstaltmeyr, 7.2.2022)

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Auf einer Briefmarke verewigt.
Foto: REUTERS/Mark Baker

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