Neil Young 1972: Mit dem introvertierten Album "Harvest" wurde er zum Weltstar.

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Es ist die vielleicht schönste Melodie, die er je durch die Mundharmonika geblasen hat. Außer Atem ist er dabei nicht gekommen. So wie Neil Young scheinbar tief entspannt das Album Harvest eröffnet, meint man, jemanden zu hören, der im Reinen mit sich und der Welt ist: Der Bass wummert träge, das Schlagzeug pocht den Ruhepuls entlang, die Pedal-Steel-Gitarre greint wie beim Eintreffen von Amors Pfeil. Out on the Weekend ist ein perfekter Song – doch sein Schöpfer ist unglücklich. Und noch ahnt er nicht, wie viele Menschen ihm dabei zuhören würden.

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Vor 50 Jahren erschien Harvest von Neil Young. Es war das Album, das den damals 27-jährigen Kanadier endgültig zum Star machte. Doch nicht Out on the Weekend war das Zugpferd, es war der Song Heart of Gold, der die Massen rühren sollte. Noch so ein liebeskrankes Kleinod, noch so eine wunderbar gespielte Mundharmonika. Über sechs Millionen Mal verkaufte sich das Album laut Billboard. Damit war es 1972 der erfolgreichste Longplayer in den USA und ließ namhafte Konkurrenten hinter sich: Carole Kings Tapestry landete auf Platz zwei, und nicht einmal die damals die Welt regierenden Led Zeppelin kamen der dünnen Stimme des dünnen Hippies nahe. Dabei war er gerade gar nicht in Form und orientierungslos.

Der Erfolg mit Crosby, Stills, Nash & Young sowie der seines dritten Soloalbums After the Goldrush (1970) zwangen den introvertierten Künstler, sich mit seiner Popularität auseinanderzusetzen – keine leichte Übung für ihn.

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Mit Harvest schien zu beginnen, was die Karriere des heute 76-jährigen Musikers durchzieht wie ein roter Faden. Er schlug einen Haken: weg von der Straßenmitte, zurück in den Graben, wie er es selbst formuliert hat. Die Perspektive dort ist jene, die er am liebsten einnimmt. Er gibt den Außenseitern eine Stimme und betreibt zugleich in Ruhe Nabelschau.

Harvest steht dafür prototypisch. Young streift darauf soziale Themen, prangert mit dem Song Alabama den Rassismus in den Südstaaten an und zeigt sich unglücklich-glücklich verliebt. Es ist ein rekonvaleszentes Album, keines, das sich dem Mainstream auch nur irgendwie angedient hätte. Und dennoch traf es den Zeitgeist wie wenige andere.

An der Nadel

Für Young kam nach der Euphorie der Sixties die Ernüchterung der zynischer werdenden 1970er. Die Welt war nicht besser geworden, das Unrecht nicht weniger. Der Vietnamkrieg tobte, Freunde und Weggefährten hingen an der Nadel oder waren daran gestorben, was sich im Song The Needle and the Damage Done manifestierte. Ihm selbst ging es körperlich auch nicht gut.

Nach einer Rückenoperation musste er ein Stützkorsett tragen. Die meisten Songs hat er deshalb im Sitzen eingespielt, auch vermochte er wegen des Korsetts nicht E-Gitarre zu spielen – Harvest ist ein halbakustisches Meisterwerk. Und dann war da Carrie Snodgress.

Mit der Schauspielerin war Young damals liiert, ihr gemeinsamer Sohn Zeke wurde, schwer behindert, ebenfalls 1972 geboren. Snodgress war die Inspiration für die sehr persönlichen Lieder der Platte. Selbst dabei zeigt er sich zerrissen. Trotz Verliebtheit hadert er mit den Erwartungen konventioneller Beziehungen. Er sehnt sich nach einem Herz aus Gold, braucht aber nur jemanden, der ihm den Haushalt führt, wie er es in Man Needs a Maid platt formuliert.

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Dieses Sich-nicht-festlegen-Wollen ist ein wiederkehrendes Thema in seiner bald sechs Dekaden umspannenden Laufbahn. Es taucht in Songs auf und schlägt sich in einer musikalischen Artenvielfalt nieder, die manch abenteuerliches Resultat zeitigte. Aber wie heißt’s? Wo ein Sturschädel, da ein Weg. Diese Haltung, die Mischung und der seelsorgerische Tonfall machen das Album so stimmig wie mysteriös. Young nahm vieles davon in Nashville auf. Er engagierte Session-Musiker, und Bassist Tim Drummond wurde einfach von der Straße weg verpflichtet. Stray Gators taufte Young die so entstandene Zufallsband.

Daheim im Stall

Andere Aufnahmen fanden bei ihm zu Hause im Stall statt und in England, wo das London Symphony Orchestra die Titel Man Needs a Maid und There’s A World auffrisierte. Dazu standen ihm Gäste wie Linda Ronstadt, James Taylor, Jack Nitzsche und Crosby, Stills und Nash zur Seite.

Mit ihnen erhält Young die Stimmung durchgehend aufrecht, inklusive des finalen Songs Words. Der ist eine mäandernde Metapher für die ewige Sinnsuche, die Young in einer anderen Version auf die Länge einer ganzen Plattenseite auswalzte – ein Epos, das mehr Fragen aufwirft, als es Antworten gibt: ein Mini-Harvest. Ein kleines Meisterwerk am Ende eines großen. (Karl Fluch, 7.2.2022)