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Schnell und frisch soll die Ware bei der Kundschaft sein, die das im Lockdown schätzen lernte und nun nicht mehr missen will. Für jene, die die Produkte bringen, ist es oft ein schlecht bezahlter Wettlauf mit der Zeit.

Foto: Getty Images/Filippo Bacci

In Tschechien sorgt seit Anfang 2022 der erfolgreiche Online-Supermarkt Rohlik, dessen Name auf Tschechisch Kipferl bedeutet, für Aufregung. Einige seiner Fahrer werfen dem Unternehmen vor, sie als Scheinselbstständige auszubeuten und sogenanntes Švarcsystém zu betreiben. Nach außen aber pflegt man das Image des verantwortungsvollen Arbeitgebers. Diese Schere zwischen Sein und Schein, welche die Zusteller Rohlik vorwerfen, fand als Bild-Text-Schere in einem Facebook-Posting der Firma über die Wichtigkeit eines gesunden Frühstücks ihre Entsprechung.

Shitstorm unter Chiasamen

"Unter dem bezaubernden Bild einer Müslischüssel mit Haferflocken, Chiasamen, Heidelbeeren und Pistazien brach der Shitstorm los", erzählt die Journalistin Michaela Janečková, die den Konflikt in der Prager Tageszeitung Denik N (hier und hier) coverte, dem STANDARD. Anfang Jänner hatte die Firma den Fahrern ihre neue Preisliste mit Gehaltseinbußen geschickt. Bei erschöpften Fahrern und auch einigen Ehefrauen und Freundinnen lief das Fass über, und sie machten ihrem Unmut unter dem Posting Luft.

Konkret wird kritisiert, dass die rund 1.800 Fahrer in der 2014 vom jungen Geschäftsmann Tomáš Čupr gegründeten Firma Rohlik offiziell selbstständige Partner, tatsächlich aber Scheinselbstständige ohne den Schutz des tschechischen Arbeitsgesetzes sind. Sie sagen, sie arbeiten bis zu 16 Stunden, werden vom Unternehmen wie Untergebene behandelt, ihre Arbeit ständig überwacht, und sie müssen fixe Tagesmieten für die Firmenautos zahlen. Urlaubs- und Krankengeld gibt es nicht – auch nicht, wenn man sich beim Zustellen verletzt.

Keine Sonntage

"Es gibt auch keine Sonntage, jeder Tag ist ein Arbeitstag", erzählt Rohlik-Bote Jan (Name von der Redaktion geändert) dem STANDARD.

Dass man, wenn man hart arbeitet, mit 2.000 bis 2.800 Euro brutto als Zusteller gut verdienen könne, ist eine Augenauswischerei, meint Jan. Denn wenn man das durch täglich 16 Stunden dividiert, lande man nicht über dem tschechischen Durchschnittslohn von rund 1.530 Euro brutto. "Ich habe den gleichen Lohn wie ein durchschnittlicher Angestellter", sagt Jan, "aber wo sind mein Urlaubsgeld, mein Krankengeld, Sozialversicherung?" Er persönlich arbeite 15 Stunden, habe dann noch den Heimweg vor sich, erzählt der Familienvater. "Da bleibt wenig Zeit, die ich mit meiner Familie verbringen oder schlafen könnte." Eine Pauschale pro Kunde wurde im neuen Jahr gesenkt, die Abzüge, wenn man auch nur wenige Minuten zu spät zustellt, erhöht. Möglichst viele Aufträge erfüllen zu können ist also wichtiger denn je.

"Die Kirsche auf dem Sahnehäubchen ist: Die Firma will, dass wir vorsichtig fahren! Wie soll das gehen? Ich muss tatsächlich doppelt so schnell fahren", ärgert sich Jan. Rohlik nahm die geplanten Änderungen nach der kleinen Revolte auf Facebook und Medienberichten darüber – neben Denik N etwa vom Onlineportal A2larm – zum Teil zurück oder verschob sie auf Februar.

"Eine Handvoll Boten"

Doch Unternehmenssprecherin Eliška Čeřovská sieht weder Aufstand noch Aufregung. "Eine Handvoll Boten wollte Klarheit über ein neues, transparenteres Entschädigungssystem für selbstständige Auftragnehmer", heißt es auf Anfrage des STANDARD, "aktuell registrieren wir keine Beschwerden von Zustellern in dieser oder irgendeiner anderen Sache." Das wundert Jan nicht: "Sie haben meinen Kumpels ja auch einen Anwalt geschickt."

Seitens Rohlik wird auch betont, dass allein im Dezember in Tschechien bis zu 30.000 Einkäufe von rund 1.800 Boten zugestellt wurden, die Zusammenarbeit mit den "unabhängigen Vertragspartnern" werde sehr geschätzt", doch auf beiden Seiten der Partnerschaft brauche es "Flexibilität". Jan sieht keine Partnerschaft: "Das ist keine gleichberechtigte Zusammenarbeit, die Kommunikation ist eine Einbahnstraße. Sie bauen uns immer höhere Mauern, die wir überwinden sollen." Statt Partnerschaft sehe Jan "Švarcsystém". Der Begriff muss außerhalb von Tschechien erklärt werden: Auch wenn der Wortteil Švarc passenderweise an Schwarzarbeit erinnert, handelt es sich um den Nachnamen des Geschäftsmannes Miloslav Švarc. Der hinterzog nach dem Ende des Kommunismus in den 1990ern Steuern, blieb Versicherungsbeiträge schuldig und bekam eineinhalb Jahre Haft.

Die Politologin Kateřina Smejkalová, die in Prag für die Friedrich-Ebert-Stiftung unter anderem zur Zukunft der Arbeit forscht, weist auf die Besonderheit hin, dass eine osteuropäische Firma in den Westen expandiert. Denn neben Gurkerl in Österreich ist auch Knuspr in Deutschland eine Tochter von Rohlik. "Während Unternehmen aus dem Westen oft in osteuropäischen Staaten mit ihrem Turbokapitalismus expandierten, weil sie für Arbeitnehmer nachteiliger Bedingungen vorfanden, wurden Ungleichheiten umgekehrt scheinbar nicht exportiert", so Smejkalová.

Gurkerl statt Kipferl

In Deutschland heißt Rohlik Knuspr und wurde 2021 in München gegründet. Seit dem Start seien "alle Fahrerinnen und Fahrer in Festanstellung. Um auf die steigende Nachfrage unmittelbar reagieren zu können, gibt es eine geringe Anzahl von Fahrern, die über eine Zeitarbeitsfirma angestellt sind. Für diese gelten jedoch dieselben Arbeitsbedingungen wie für Festangestellte", so ein Sprecher von Knuspr.

In Österreich startete im Dezember 2020 eine Tochter von Rohlik durch: Der Online-Supermarkt Gurkerl.at wuchs in einem Jahr von elf auf aktuell 800 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Hier sind die Arbeitnehmer aber fast ausnahmslos angestellt. Nur "zu Spitzenzeiten" greife man bei 15 Prozent der Botinnen und Boten auch auf Leiharbeitskräfte zurück, betont Gurkerl-Sprecherin Christine Benesch, "aber für sie gelten die genau gleichen Arbeitsbedingungen wie für unsere Leute". Maurice Beurskens, Geschäftsführer von Gurkerl.at, wirbt damit, dass er der Belegschaft über Tarif zahlt. Betriebsrat gibt es bei Gurkerl aber bislang keinen. "Wir haben zurzeit keinen Kontakt in die Belegschaft von Gurkerl", heißt es auch auf Nachfrage bei der Gewerkschaft Vida.

Gurkerl.at berechnet sein Wirtschaftsjahr von Mai bis April. Von Mai 2021 bis April 2022 rechne man mit einem Gesamtumsatz von mehr als 50 Millionen Euro, sagt Benesch.

Sesam, öffne dich!

Rohliks Expansionskurs geht weiter: Im Frühling erobert man mit Standorten in Mailand und Bukarest Italien und Rumänien, in der zweiten Jahreshälfte folgt Spanien. Sezamo soll der Online-Markt in diesen Ländern heißen, weil das in den drei Sprachen an das Wort für Sesam und an die Schatzkammer im Märchen Alibaba und die 40 Räuber erinnert. Mit Ungarn wird Rohlik-Gründer Čupr dann in sieben Ländern Geschäfte machen, wo er "weiterhin interessante, flexible und überdurchschnittlich gut bezahlte Arbeitsplätze bieten" will, zitiert ihn eine Firmenaussendung.

Das staatliche Arbeitsinspektorat prüft Rohlik seit September 2021 – bisher ohne offizielles Ergebnis. 2018 wurde die Firma zu einer Geldstrafe von umgerechnet rund 12.000 Euro verurteilt. Anlass waren Beschwerden von 14 Fahrern in Brno. Rohlik reagierte mit Umstrukturierungen. "Selbst wenn man wegen Švarcsystém hin und wieder Strafen zahlt, zahlt es sich am Ende für viele Firmen aus", vermutet Journalistin Janečková. Für die Politologin Smejkalová könnte der Protest der Fahrer aber auch "der Beginn eines Arbeitskampfes in Tschechien sein". (Colette M. Schmidt, 7.2.2022)