In "May Be 2.0" im Schubert-Theater Wien kann das Publikum von daheim aus Platons Schattengleichnis-Höhle virtuell erkunden.

Foto: Schubert-Theater

"Projekt Pinocchio" fragt am Schubert-Theater danach, wann eigenes Leben beginnt.

Barbara Pálffy

Regisseurin Cosmea Spelleken inszeniert Theater für den digitalen Raum, ausgezeichnet wurde sie im Vorjahr für "werther.live".

Foto: Lotta Schweikert

Wien – Nach zwei Jahren Pandemie und vielen Diskussionen darüber, was digitale Theaterformate taugen, wird klar: Theater via Bildschirm wird bleiben. Plüschpolster-Aficionados müssen aber keineswegs in Panik verfallen. Das Digitale möchte keine erquickliche Liveaufführung vor Ort im Saal ersetzen und kann es auch nicht. Es hat sich allerdings im Zuge der generellen Technologisierung des Alltags und gepusht von der Lockdown-Notlage ein neues, digitales Handlungsfeld für darstellende Künste eröffnet, das insbesondere in der freien Szene vorangetrieben wird. Längst werden Preise dafür eingeheimst, Festivals damit programmiert und Spielpläne zusätzlich mit Streaminglinks bestückt.

Theater im Metaverse

Alles steckt noch in den Anfängen, aber eines Tages werden auch Theaterbesuche in der Pixelwelt des Metaverse möglich sein. Und so wie derzeit Stars ihre Konzerte im Metaverse ankündigen, könnten künftig auch Stückaufträge für den digitalen Raum Realität werden. Das heißt aber nicht, dass unsere lieben Stadttheater verschwinden werden. Die neue, künstliche Welt wird die alte, analoge nicht ablösen und damit auch nicht ihr Theaterschaffen, sie wird es erweitern.

Die Frage laute, was das digitale Theater könne, was das analoge nicht könne, und welcher Stoff am besten in welches Format passe, sagt Cosmea Spelleken. Die Regisseurin landete im Vorjahr mit ihrer Digitalinszenierung werther.live auf allen Hitlisten des deutschsprachigen Theaters und wurde dann noch in der Fachzeitschrift Theater heute zur Nachwuchsregisseurin des Jahres gewählt. Spelleken hat die Downhill-Liebesgeschichte aus Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werthers als Videochat-Verlauf inszeniert und dabei die Tragik missverständlicher Kurznachrichten samt schieflaufenden Hinterrückskonversationen mitreißend in Szene gesetzt.

Gleichzeitigkeit

Die Briefromanform schien prädestiniert für eine digitale Umsetzung. Aber auch die traurigen Gutshofkünstler aus Tschechows Möwe und ihre ungnädigen Daumen-rauf-und-runter-Wertungen hat die Regisseurin überzeugend in den Desktop-Kosmos sozialer Medien übertragen: möwe.live, in Koproduktion mit dem Staatstheater Nürnberg, 2021.

Entscheidend für die Erfüllung dessen, was wir landläufig als Theater verstehen, ist für Spelleken allem voran das Liveerlebnis, d. h. die Gleichzeitigkeit und die Kopräsenz mit der Bühne, wobei beim Bildschirmtheater der geteilte Raum eben der digitale ist. Aus der Konserve abgespielte filmische Aufzeichnungen erfüllen diese Anforderungen nicht.

Dass die technologisch basierte Kommunikation unserer Tage auch am Theater ihre Spuren hinterlassen wird, war zu erwarten. "Wir tragen digital viel aus", so Spelleken, "nicht nur junge Leute." Das erfordert seine künstlerische Abbildung. Diese wird wie so oft nicht von etablierten Institutionen vorangetrieben, sondern von freischaffenden Künstlerinnen und Künstlern. Und meist wurden diese nicht an den üblichen Schauspiel- und Regieschulen ausgebildet, sondern haben, wie auch Spelleken, Medienkunst studiert. Derzeit ist es in Österreich vorwiegend die Universität für angewandte Kunst samt ihren Studiengängen Digitale und Transmediale Kunst, die Kompetenzen auf diesem Gebiet vermittelt.

Digitales Puppentheater

Dass sich aber auch traditionelle Theatergenres wie das Figuren- und Puppentheater für den digitalen Raum eignen, davon ist Simon Meusburger, Leiter des Schubert-Theaters in Wien, überzeugt. Er hat für den Monat Februar einen Schwerpunkt zum Thema programmiert. Hier sieht man, wie breit gefächert digitale Theaterformate sein können: Einerseits wird die als goscherte Klappmaulpuppe bekannte Wiener Gastronomin Resi Resch in der digitalen Miniserie Ein Würstelstand auf Weltreise mithilfe von Bluescreen um den Globus geschickt. Immersiver geht es andererseits im Stück May Be 2.0 zu, bei dem das Publikum als Avatare in digitale Räume vordringen kann, bis hin zu Platons Höhle. Beim Projekt Pinocchio wiederum hat eine künstliche Intelligenz mitgeschrieben und mitkomponiert.

Das digitale Theater wird neues Publikum generieren, auch aus dem Gaming-Bereich, der mit technischem Know-how vorangeht. "Das Theater kann viel vom Gaming-Sektor lernen", sagt die in Graz tätige und am Massachusetts Institute of Technology (MIT) ausgebildete VR-Entwicklungsexpertin Johanna Pirker. Sie ist, wie auch Cosmea Spelleken, bei den im Rahmen des Schwerpunkts angesetzten Gesprächspanels zum digitalen Theater am Schubert-Theater dabei.

Begriffe schärfen

"Die digitalen Räume sind vielleicht das Intimste, das wir derzeit haben, vergleichbar mit dem, was früher das Tagebuch war", sagt Spelleken. Für dieses digital ein- und zugleich ausgelagerte Leben brauche es Darstellungsformen, die genau jene Intimität mittransportieren und widerspiegeln. Dafür wird das Theater wie andere Kunstsparten auch gerade aus seinen Schubladen geholt. Die Pandemie hat die Diskussion um Begriffe erzwungen: Was kann Theater sein? Offenkundig mehr als bisher. (Margarete Affenzeller, 7.2.2022)