Hans Neuenfels 2015 bei einem Interview.

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Als Theaterregisseur gehört er in die Riege der großen, stilbildenden Nachkriegsabenteurer, in die Reihe mit Peter Zadek, Peter Stein, Claus Peymann. Als genialischen Jüngling aus dem beschaulichen Krefeld verschlug es Hans Neuenfels schon früh im Leben nach Paris, in das Atelier des surrealistischen Bilderfinders Max Ernst. Damit war Neuenfels‘ Sinn für theatralisches Zuwiderhandeln ein für alle Mal geweckt.

Fortan sollte dem Absolventen des Wiener Max-Reinhardt-Seminars die bundesdeutsche Nachkriegsgesellschaft als Reibebaum dienen. Neuenfels schüttelte Bühnenhappenings im Stil des Living Theatres aus dem verwegen flatternden Ärmel. Er inszenierte in Trier, Krefeld und Heidelberg, wo er sich als Spielleiter einen wahrhaft unerhörten Ruf erwarb: als Bürgerschreck, der zum Beispiel Büchners Dantons Tod (1969) in weißen Leintüchern spielen ließ: Theater zum Furchterregen. Als Tiefenpsychologe, der spektakuläre Kraftbündel wie Ulrich Wildgruber mit sich in die Anarchie fortriss und Elisabeth Trissenaar zur Muse, Ehefrau und zur unentbehrlichen Mitstreiterin gewann.

Als Gefolgsmann des bei Bertolt Brecht in die Schule gegangenen Peter Palitzsch wechselte Neuenfels 1972 von Stuttgart nach Frankfurt. Es folgten unruhige Jahre, in denen das Mitsprachemodell die Bühne der Main-Metropole an den Rand der Leistungsfähigkeit brachte. Hinzu kam Neuenfels' Faible für die Oper. Stücke wie Hamlet schloss er buchstäblich an den Abwasserkanal an ("Etwas ist faul im Staate Dänemarks"). Im für ihn wohlvertrauten Wien inszenierte er beispielhaft gelungen Wedekinds Franziska (1978), oder er besetzte Anne Bennent mit der Titelrolle des Kleist’schen Käthchens von Heilbronn (1992).

Schauerliche Geheimnisse

Neuenfels’ Begeisterungsfähigkeit brach viele Dämme und, im Verein mit zäher Durchsetzungskraft, nahezu alle Widerstände. Unter der Oberfläche geläufiger Stoffe kratzte Neuenfels schauerliche Geheimnisse hervor. Der Bourgeoisie, deren gehobenen Geschmack er in vielerlei Hinsicht teilte, drehte er gerne eine lange Nase. Unvergessen seine provokante Fledermaus, mit der er das Salzburger Festspielpublikum 2001 verlässlich vor den Kopf stieß: ein später Höhepunkt der an Modernisierungen reichen Ära Gerard Mortiers.

Und doch war hinter der Maske des Weinkenners und Bürgerschrecks ein ungemein belesener, sensibler Geheimniskrämer am Werk. Einer, der seinem geliebten Heinrich von Kleist auch filmische Denkmäler setzte (Die Familie oder Schroffenstein, 1983/84). Der über Partiturgeheimnisse im Opernwerk Mozarts druckreif zu sprechen verstand und eine saubere, geistreiche Prosa zu schreiben wusste, nicht zuletzt in seinen Memoiren.

Kunst und Gefahr

Von der Kunst sagte Hans Neuenfels einmal: Da sie für alle Beteiligten eine Gefahr darstelle, müsse sie auch damit rechnen, selbst in Gefahr zu geraten. In seiner Deutung des Lohengrin bei den Bayreuther Festspielen verwandelte Neuenfels das schöne Brabant gewaltig: Er machte aus der Wagner-Oper kurzerhand einen Tummelplatz für Laborratten.

Jetzt ist Hans Neuenfels, dieser sanfte, zutiefst humanistische Wüterich, 80-jährig in Berlin verstorben. (Ronald Pohl, 7.2.2022)