Aus Anlass von Pier Paolo Pasolinis 100. Geburtstag am 5. März 2022 beleuchten wir in loser Folge Facetten von Pasolinis Rolle als öffentlicher Intellektueller.

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Das Einzelgängertum Pier Paolo Pasolinis (1922–1975) gehört zu einer Reihe von Rätseln, deren letztes der gewaltsame, bis heute ungeklärte Tod des Dichters bildet. Zerquetscht am Strand von Ostia, wurde der allem Anschein nach von einem 17-jährigen Sexualpartner Ermordete von der bürgerlichen Presse zum Opfer der eigenen, nach bürgerlichen Gesichtspunkten "untragbaren" Lebensführung erklärt.

Dabei hatte Pasolini bereits früh, in Kenntnis der in Italien praktizierten Heuchelei, mit allen wichtigen Sachwaltern der Nachkriegsgesellschaft gebrochen. Diese behandelte ihn ihrerseits, schon aus schnödem Undank, wie einen Ausgestoßenen. "Immer wieder zwängt die Presse Pasolini allmählich in ein vorgefertigtes Schicksal, das ihn – über den Tod hinaus – in die Welt der Kriminalität verdammt", heißt es dazu vielsagend in einer Chronik jener unzähligen Prozesse, die man aus Gründen der sittlichen Entrüstung gegen Pasolini, den promiskuitiven Homosexuellen, führte. Da war der umtriebige Lehrer, Agitator, Dialektdichter bereits aus dem Friaul nach Rom übersiedelt (1949/50).

Die Klatschreporter gingen in den 1960er-Jahren dazu über, besonders zwielichtige Erscheinungen aus der "Malavita", Roms Unterwelt, mit dem Adjektiv "pasolinisch" zu versehen. Pasolini stand als Person öffentlichen Interesses nicht nur unzählige Male vor dem Kadi. Er nahm in einer "Welt des Unverständnisses" das ihm aufgezwungene Martyrium auf sich: widerstrebend, dennoch sendungsbewusst.

Versuchung des Hochmuts

Der Lyriker Franco Fortini, ein kritisch gesonnener Freund und Sozialist, solidarisierte sich umgehend mit dem erklärten Parteigänger aller "Subproletarier": "Ich nehme an, dass die einfachste Versuchung nun für dich darin besteht, den poetischen Mythos des Ausgestoßenen wiederaufzugreifen."

Doch Fortini zögert nicht, den derart Angesprochenen "vor zu leichten Lösungen zu warnen". Auf dieses eigentlich widersinnige Muster einer von aufrechter Sympathie getragenen Abneigung stößt man bei Pasolinis zahllosen Intellektuellen-Kollegen wiederholt. So lässt sich Zeichenforscher Umberto Eco – damals 43 Jahre alt – von der "Radionachricht über Pasolinis Tod" zu folgender Würdigung hinreißen: "Gewiss hätte Pasolini sich auch erlauben können, sein Anderssein anderswo als im Untergrund auszuleben. Mag sein, dass er aus Hochmut nicht davon lassen wollte." Entgegen der Mär vom einsamen Propheten war Pier Paolo Pasolini jedoch ein ungemein geselliger Intellektueller, der nach seiner Verfilmung der biblischen Matthäus-Passion sogar die Nähe von fortschrittlichen Kirchenvertretern keineswegs scheute.

Als Redakteur von Literaturzeitschriften riss er ältere Avantgardisten wie Carlo Emilio Gadda zu Beitragsleistungen hin. Er pflegte hingebungsvolle Freundschaften mit Kolleginnen und Kollegen, mit Giorgio Bassani, Alberto Moravia oder Elsa Morante. Die Schauspielerin Laura Betti verkörperte seine Chansons singende Muse. Aus der Arbeitsgemeinschaft mit der emeritierten Operndiva Maria Callas (sie spielte unter anderem seine Film-Medea) ging ein belastbares Bündnis hervor: ein platonisches Liebesverhältnis zwischen Seelenverwandten.

Schleier der Unnahbarkeit

Und doch umgab den Netzwerker Pasolini bis zum Schluss ein Schleier der Unnahbarkeit. Als Zeitungspolemiker las er der verrotteten Alltagskultur die Leviten, er zerrte die vermeintlich "abgestumpften" Opfer der Konsumwelt vor seinen vor Empörung vibrierenden Richterstuhl. Im Gegensatz zu anderen linken Dichtern im Proleten-Drillich à la Bertolt Brecht besaß er eine natürliche Ansicht von den einfachen, subproletarischen Menschen, in deren Namen – und zu deren Gunsten – er polemisch sprach. Zahllose Freundinnen und Mitarbeiter verdankte Pasolini seinen Streifzügen durch die Vorstadt. Und doch blieb er bevorzugt unter seinesgleichen: bei Autoren wie Italo Calvino oder einsam in seinem Turm von Chia (Provinz Viterbo).

Aufrechte Kommunistinnen wie Rossana Rossanda nahmen ihn nach seinem Tod noch vor der einhelligen Trauer "von links bis rechts" in Schutz. Eine von ihm ungeliebte Welt versammle sich überstürzt vor seinem Grab, um ihn, den Außenseiter, ein letztes Mal zu verhöhnen. Er, vor allem aber sein Andenken würde damit "gründlicher totgeschlagen" als von einem fehlgeleiteten Burschen am Strand von Ostia. (Ronald Pohl, 8.2.2022)