Ein weiterer Schritt vorwärts: zwei der querschnittgelähmten Studienteilnehmer (links: Michel Roccati), die dank Elektrostimulation mit einem Rollator gehen können.

NeuroRestore / Jimmy Ravier

Die Bilder gingen Ende 2018 um die Welt: David Mzee, der seit 2010 durch eine bei einem Sportunfall erlittene partielle Rückenmarksverletzung gelähmt war, stand aus seinem Rollstuhl auf und begann mithilfe einer Gehhilfe Schritte zu machen. Der Zürcher war der erste Teilnehmer einer von der ETH Lausanne (EPFL) und der Uniklinik Lausanne durchgeführten Machbarkeitsstudie, die den Beweis erbringen sollte, dass sogenannte Elektrostimulation zur Überwindung von Querschnittlähmungen beitragen kann.

Drei Jahre später berichtet das Forschungsteam um die Neurochirurgin Jocelyne Bloch und ihren Kollegen Grégoire Courtine (beide EPFL und Uniklinik Lausanne) nun im Fachblatt Nature Medicine über einen weiteren Fortschritt: Die Forschenden entwickelten ein System von ausgefeilteren Implantaten, die von einer Software mit künstlicher Intelligenz gesteuert werden. Ko-Autor ist Karen Minassian, der 2016 von der Med-Uni WIen an die EPFL wechselte und vor kurzem wieder an die Med-Uni Wien zurückkehrte.

Komplexere Steuerungsmöglichkeit

Herzstück ist eine gut sieben Zentimeter lange und knapp anderthalb Zentimeter breite Folie, auf der 16 kleine Elektroden angeordnet sind. Diese werden so in der Wirbelsäule platziert, dass die Elektroden über die Nervenfasern Motorneuronen im Rückenmark stimulieren und dadurch Muskeln im Bein und im Rumpf gezielt aktivieren. Die elektrischen Impulse werden dabei individuell auf die Probanden eingestellt.

EPFL

Die große Weiterentwicklung seien die längeren und breiteren implantierten Elektroden, sagt Bloch. "Das gibt uns eine präzise Kontrolle über die Neuronen, die bestimmte Muskeln regulieren." Letztlich ermöglicht dies eine größere Selektivität und Genauigkeit bei der Steuerung der Bewegungsabläufe für eine bestimmte Aktivität. So wird neben dem Gehen etwa auch Schwimmen oder Radfahren möglich.

Das neue System in der Praxis

Einer der drei Patienten, bei denen diese verbesserte Technik zur Anwendung kam, ist Michel Roccati. Dem Italiener, der seit einem Motorradunfall vor vier Jahren gelähmt ist, wurde von Bloch die neue Folie mit dem Elektrodenarray implantiert. Der Rollator, mit dem Roccati mittlerweile gehen kann, ist mit zwei Fernbedienungen ausgestattet, die wiederum drahtlos mit einem Tablet verbunden sind, das Signale an einen Herzschrittmacher im Bauch des Patienten weiterleitet. Der Schrittmacher übermittelt dann die Signale an das Implantat, das bestimmte Neuronen stimuliert und die Bewegung anleitet.

Um zu gehen, drückt Roccati auf den Knopf an der rechten Seite der Gehhilfe – mit der festen Absicht, mit dem linken Bein einen Schritt nach vorne zu machen. Sein linker Fuß hebt sich daraufhin wie von Geisterhand und senkt sich einige Zentimeter vor ihm zu Boden. Dann macht er dasselbe mit dem Knopf auf der linken Seite, und sein rechter Fuß bewegt sich vorwärts.

"Die ersten paar Schritte waren unglaublich, wie ein wahr gewordener Traum", sagt Roccati. "Ich habe in den letzten Monaten ziemlich intensiv trainiert und mir eine Reihe von Zielen gesetzt. Zum Beispiel kann ich jetzt Treppen steigen und hinuntergehen, und ich hoffe, dass ich bis zum Frühjahr in der Lage sein werde, einen Kilometer zu gehen."

Erreichbares bleibt (noch) limitiert

Auch wenn die geschilderten Erfolge spektakulär klingen, so sei vor allzu großen Hoffnungen zu warnen, sagt Winfried Mayr (Med-Uni Wien), der an der Studie nicht beteiligt war: Zum einen könnten damit vor allem Patientinnen und Patienten mit einer sogenannten "diskompletten Lähmung" behandelt werden, bei der noch Reste der Aktivität der Nervenfasern vorhanden sind. Zum anderen bleibe "der weitere Rehabilitationsprozess auch mit unterstützender Stimulation aufwendig und im Erreichbaren limitiert". (Klaus Taschwer, 7.2.2022)