Dragan Čović hat vorgeschlagen, dass Wahlkreise nach ethnischen Kriterien geschaffen werden.

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Am Donnerstag werden die Verhandlungen zur Änderung der Verfassung und des Wahlgesetzes von Bosnien-Herzegowina in Sarajevo fortgesetzt. Zuletzt waren die Verhandlungen Ende Jänner in Neum gescheitert. Im Vorfeld der neuerlichen Runde behauptet nun der Chef der kroatisch-nationalistischen Partei HDZ, Dragan Čović, dass die Venedig-Kommission des Europarats seine Vorschläge unterstützen würde. Die HDZ hatte etwa vorgeschlagen, Wahlkreise nach ethnischen Kriterien zu formieren oder Wahlmänner einzusetzen.

Die HDZ will mit diesen Modellen erreichen, dass künftig das kroatische Mitglied der dreiköpfigen Präsidentschaft hauptsächlich von Bosniern und Herzegowinern gewählt werden kann, die sich als Kroaten bezeichnen. Denn zurzeit ist es möglich, dass auch andere Bosnier und Herzegowiner das kroatische Mitglied wählen. Das hat dazu geführt, dass derzeit der Mitte-links-und proeuropäisch orientierte Politiker Željko Komšić im Staatspräsidium sitzt und kein Anhänger der rechtsnationalen HDZ. Das empfinden viele Kroaten als ungerecht, obschon es der Verfassung entspricht. Die HDZ versucht seit vielen Jahren, ihre diesbezüglichen politischen Forderungen über die europäischen Institutionen durchzubringen.

Keine Auskunft

Nun ist es allerdings nicht möglich zu klären, ob die Venedig-Kommission tatsächlich den Modellen der HDZ zustimmt, denn sie gibt trotz des beachtlichen Interesses der bosnischen Bürger und ihrer Sehnsucht nach Transparenz keine Auskunft darüber, welche Modelle zur Änderung des Wahlgesetzes und der Verfassung von der Venedig-Kommission diskutiert und gutgeheißen werden, wobei unklar bleibt, auf wessen Initiative hin die Kommission in diesem Fall tätig wurde.

Auf mehrmalige Nachfrage des STANDARD antwortet der Pressesprecher Panos Kakaviatos: "Die Diskussionen der Venedig-Kommission sind vertraulich, und die Kommission äußert sich im Allgemeinen nicht zu Themen, die außerhalb des Rahmens veröffentlichter Stellungnahmen oder Erklärungen liegen. Also vorerst kein Kommentar. Wir teilen Ihnen mit, ob und wann eine Stellungnahme veröffentlicht wird." Zu dem Hinweis auf die erwünschte Transparenz des Prozesses im Sinne der Bürger von Bosnien-Herzegowina sagt Kakaviatos: "Ich verstehe das Streben nach Informationen, aber die Venedig-Kommission hat bei ihrer Arbeit einfach Regeln der Vertraulichkeit. Es funktioniert einfach so."

Nicht den Standards entsprochen

Der scheidende US-Botschafter in Bosnien-Herzegowina, Eric Nelson, sorgte für weitere Verwirrung, weil er sagte, dass die vorgeschlagenen Modelle der HDZ von der Venedig-Kommission bestätigt worden seien, aber nicht den Standards entsprächen. Das Ziel der Arbeit der Venedig-Kommission müsste es sein, den Standards des Europarats zur Gleichberechtigung aller Bürger Geltung zu verschaffen.

Der bosnische Politikwissenschafter Suad Arnautović, der Teil der Wahlkommission ist, meint zu den jüngsten Vorschlägen der HDZ, dass diese keineswegs zur Umsetzung der Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte führen würden, welcher in mehreren Urteilen festgestellt hat, dass die bosnische Verfassung geändert werden muss, um die Diskriminierung von Juden, Roma oder anderen Minderheiten und jenen Bürgern, die sich nicht "ethnisch" definieren wollen, zu beenden.

Generalsekretärin des Europarats ist HDZ-Politikerin

Arnautović erklärt zudem, dass die HDZ-Vorschläge jene Bürger, die sich nicht ethnisch definierten, noch stärker diskriminieren würden, als dies bereits der Fall ist. Der jüngste Vorschlag karikiere die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sowie die Europäische Menschenrechtskonvention, so Arnautović dem STANDARD gegenüber. Er reduziere nämlich den gesamten Prozess der Wahl auf den Willen von Ethnien und Entitäten. "Es ist ein Modell voller ethnischer Exklusivität und voll von Vorurteilen und Ängsten vor anderen", analysiert Arnautović.

Die Venedig-Kommission ist ein Expertengremium und Teil des Europarats und berät Länder zu Verfassungsfragen. Generalsekretärin des Europarats ist seit 2019 Marija Pejčinović Burić, die wiederum selbst eine Kroatin ist, die aus der Herzegowina stammt. Sie war als HDZ-Politikerin Außenministerin Kroatiens und gehört demnach der Schwesternpartei der bosnischen HDZ an. Trotz mehrmaliger Anfragen an den Europarat, ob Frau Pejčinović Burić auch in ihrer neuen Funktion weiterhin Mitglied der HDZ ist, hat der STANDARD vom Pressebüro des Europarats niemals eine Antwort darauf bekommen.

Einfluss aus Zagreb

Nach dem Scheitern der Gespräche in Neum sind nun alle Seiten darum bemüht, nicht dafür verantwortlich gemacht zu werden. Angelina Eichhorst vom Europäischen Auswärtigen Dienst besuchte nach den Verhandlungen in Neum schnell den kroatischen Premier Andrej Plenković (HDZ) in Zagreb, ganz so, als ob Kroatien etwas in der Innenpolitik in Bosnien-Herzegowina mitzubestimmen hätte. Schon seit Monaten wird angesichts der Verhandlungen deutlich, dass Eichhorst die Anliegen der HDZ fördert. Dies könnte auch damit zu tun haben, dass kroatische Vertreter innerhalb der EU-Institutionen für ihre ethno-politischen Anliegen im Nachbarstaat lobbyieren und es offenbar geschafft haben, einige andere EU-Europäer zu überzeugen.

Dabei hat Kroatien gar kein Recht, sich in das politische Geschehen in Bosnien-Herzegowina einzumischen. Dies ist auch im Friedensvertrag von Dayton so verankert. Bereits im ersten Artikel des Vertragswerks heißt, es dass die "Parteien uneingeschränkt die souveräne Gleichheit der anderen akzeptieren" und jegliche Maßnahmen gegen "die politische Unabhängigkeit von Bosnien und Herzegowina" unterlassen werden. Zu den Vertragsparteien gehörten damals, im Jahr 1995, Kroatien und Jugoslawien (dessen Rechtsnachfolger heute Serbien ist). Der Grund für diesen Passus war offensichtlich: Gerade weil Serbien und Kroatien sich massiv in die Innenpolitik in Bosnien-Herzegowina eingemischt hatten, ja den Staat sogar zerstören und untereinander aufteilen wollten, war und ist Friede nur möglich, wenn sie dies eben nicht mehr tun.

Auf dem längeren Ast

Seitdem Kroatien, seit dem Jahr 2013, EU-Mitglied ist, kann die Union keinen Druck mehr ausüben, wenn es darum geht, die Nationalisten in Bosnien-Herzegowina einzuhegen. Im Gegenteil: Die Staaten, die bereits in der EU sind, können ihren Einfluss geltend machen, vor allem wenn andere EU-Staaten nicht so genau Bescheid wissen bzw. die Angelegenheiten für sie nicht von Interesse sind.

Die ungleiche Situation zwischen Kroatien und Bosnien-Herzegowina erinnert an die Zeit vor dem Beitritt der Tschechischen Republik in die EU im Jahr 2004. Damals verknüpften Nationalisten in Österreich den EU-Beitritt mit den Sorgen um das Atomkraftwerk Temelín. Es folgten Grenzblockaden, Protestmärsche, und die FPÖ initiierte ein Volksbegehren "Veto gegen Temelín". Die Einmischung der Österreicher in die tschechische Innenpolitik sorgte für große Verstimmungen zwischen den Nachbarn. Aber die nationalistischen Österreicher hatten den Eindruck, dass sie auf dem längeren Ast sitzen würden.

Konstitutives Volk

Interessant ist, dass EU-Vertreter heute offenbar die Einmischung Kroatiens befördern. Der Verweis auf die Souveränität und die politische Unabhängigkeit Bosnien-Herzegowinas im Friedensvertrag ist insbesondere für das Recht Bosnien und Herzegowinas relevant, sein eigenes politisches System zu wählen. Die Kroaten in Bosnien-Herzegowina sind zudem keine Minderheit, sondern in der Verfassung als "konstitutives Volk" verankert. Es geht bei der Intervention seitens Kroatiens also nicht um Hilfe für eine verfolgte Minderheit im Nachbarstaat, sondern eher um die Untergrabung der Souveränität eines Staates. Dies wird freilich in Kroatien überhaupt nicht so gesehen.

In der restlichen EU wiederum gibt es Diplomaten und politische Verantwortungsträger, die denken, man müsse der HDZ "etwas geben", damit sie in der Folge ihre Blockade-Politik aufgibt. Es gibt allerdings keine Hinweise in der Vergangenheit der Politik der HDZ darauf, dass diese Annahme auch stimmen könnte. Die Blockade- und Veto-Möglichkeiten sind vie mehr seit Jahrzehnten für die HDZ die Grundlage für ihre Machtsicherung in den Institutionen.

Über 15 Prozent der Bürger

Kroaten sind in Bosnien-Herzegowina gut, zuweilen sogar überproportional vertreten. Die größte kroatisch-nationalistische Partei, die HDZ, gewann zuletzt im Landesteil Föderation knapp 15 Prozent der Stimmen, im Gesamtstaat neun Prozent, doch sie stellt in der Föderation fast dreißig Prozent der Regierenden und ein Viertel der Delegierten in der zweiten Parlamentskammer. Auf gesamtstaatlicher Ebene gehören drei von zehn Ministern der Partei an. In öffentlichen Institutionen – etwa im Fernsehen – sind zahlreiche entscheidende Positionen für Kroaten reserviert. Laut der letzten Volkszählung aus dem Jahr 2013 bezeichnen sich über 15 Prozent der Bürger in Bosnien-Herzegowina als Kroaten. Einige Nationalisten unter ihnen wollen noch immer eine "dritte Entität", also ein eigenes Territorium für Kroaten, in Bosnien-Herzegowina schaffen.

Nationalisten haben während des Kriegs (1992 bis 1995) eine eigene, unabhängige "kroatische" Region in Bosnien-Herzegowina ausgerufen, die sie Republik Herceg-Bosna nannten und die später – das wollte auch der damalige kroatische Präsident Franjo Tudjman – an Kroatien angeschlossen werden sollte. Die Strukturen der "Herceg-Bosna" bestanden auch nach dem Krieg weiter und wurden weiter von Kroatien aus unterstützt. Ziel der EU war es deshalb damals, Kroatien zu verpflichten, dabei mitzuhelfen, dieses von kriminellen Strukturen unterlaufene Gebiet wieder in den Gesamtstaat zu integrieren. Die Forderungen des EU-Rats vom April 1997, also genau vor 25 Jahren, haben ihre Relevanz bis heute behalten: Kroatien solle "Beweise für einen glaubwürdigen Druck auf die bosnischen Kroaten" liefern, "die Herceg-Bosna-Strukturen aufzulösen und bei der Gründung und Funktionsweise der Föderation zusammenzuarbeiten", hieß es damals. Die Erfüllung dieser Beschlüsse war die Grundlage für die Aufnahme Kroatiens in die EU.

Drohen mit Herceg-Bosna

Heute drohen nationalistische Kroaten in Bosnien-Herzegowina allerdings damit, diese Strukturen der Herceg-Bosna wiederaufzubauen, falls sie nicht die gewünschten politischen Ziele erreichen würden. Dies geschah zuletzt nach den gescheiterten Gesprächen in Neum. Dabei kann die HDZ in Mostar durchaus auf die Unterstützung ihrer Schwesterpartei in Zagreb zählen.

Die Beziehungen zwischen Kroaten und Bosniaken sind seit dem wechselseitigen Krieg (1992 bis 1994) belastet. In vielen Gemeinden sind die Geschehnisse nicht aufgearbeitet, sondern werden oft unter den Teppich gekehrt. Diese tabuisierte Vergangenheit – es kam auf beiden Seiten zu Kriegsverbrechen – führt heute eher dazu, dass man sich wechselseitig abschottet und das aktive Zusammenleben nicht fördert. Auch bei den jüngsten Verhandlungen stand das Gemeinsame nicht im Vordergrund, man versucht eher Trennungen (etwa ethnisch definierte Wahlkreise) zu schaffen.

Ausländer in Ethno-Logik

Der HDZ-Vorsitzende Dragan Čović, ein gewiefter Stratege, war selbst im Krieg Direktor der Firma Soko. In einem Dokument aus dem Jahr 1993, das seine Unterschrift trägt, werden bosniakische Zwangsarbeiter für die Firma aus dem berüchtigten Lager Heliodrom beordert, einem Ort, wo die Häftlinge regelmäßig misshandelt und gefoltert wurden. Čović selbst sagt, er habe sich immer ehrenhaft verhalten, und im Krieg habe niemand für Geld gearbeitet. Čović ist politisch seit vielen Jahren mit dem separatistischen bosnisch-serbischen Nationalisten Milorad Dodik und dessen Partei SNSD verbündet, der den Staat Bosnien-Herzegowina zerstören will. Diese politische Verbindung wurde nun nach dem Scheitern der Gespräche in Neum nochmals bestärkt.

Auf der anderen Seite des nationalistischen politischen Spektrums stehen jene Kräfte, die einen europäischen Rechtsstaat schaffen wollen, in dem alle als Bürger gleichbehandelt werden und in ihrer kulturellen Vielfalt geschützt sind. Dies ist angesichts der Nachkriegsverfassung und der fehlenden Mehrheiten für so ein Modell sehr schwierig zu erreichen. Keinesfalls wollen diese progressiven Kräfte aber eine weitere ethnische Trennung in Bosnien-Herzegowina zulassen. Oftmals werden diese bürgerlichen Kräften von den internationalen Vertretern gar nicht gehört, weil die Ausländer oftmals in der Ethno-Logik, die im Krieg dominant wurde, verhaftet sind.

EU und USA wollen Deal

Zurzeit unterstützen nicht nur die EU, sondern auch die USA einen "Deal" zwischen den bosniakischen Nationalisten (SDA) und den kroatischen Nationalisten (HDZ), weil sie glauben, dass so eine Übereinkunft– analog zum Washington- Abkommen im Jahr 1994 – die Gesamtsituation entspannen könnte. Diese politische Linie gibt vor allem der Berater im US-Außenministerium Dereck Chollet vor, der nach dem Krieg ein Buch über den Friedensvertrag von Dayton schrieb. Allerdings hat sich das Land seit den 1990ern modernisiert und in europäische Strukturen integriert.

Ein möglicher Deal zwischen der SDA und der HDZ zur Verfassungsänderung wurde bereits im Jahr 2020 anvisiert. Damals ging es eigentlich nur um das Stadtstatut für die seit dem Krieg geteilte Stadt Mostar, damit dort wieder Wahlen abgehalten werden können. Doch tatsächlich gab es bei dem Deal, der von den USA und der EU eingefädelt worden war, eine weitere Absprache, deren Umsetzung nun offenbar von der HDZ eingefordert wird. Der Chef der SDA, Bakir Izetbegović, unterschrieb damals die Verständigung auf eine "legitime Repräsentation", einen politischen Lobby-Begriff der HDZ, mit dem diese einen HDZ-Kandidaten im Staatspräsidium absichern will. Weil Izetbegović damals zustimmte, kann er jetzt von vielen Seiten unter Druck gesetzt werden. Der Mostar-Wahl-Deal ist für die SDA ziemlich vorteilhaft, deswegen dürfte sie die Nebenabsprache damals unterschrieben haben. Offen ist, ob die bisherige Verhandlungsstrategie der EU und USA dazu gedient hat, dass sich die verschiedenen Seiten wirklich annähern. (Adelheid Wölfl aus Sarajevo, 8.2.2022)