Gu schnappt sich Gold.

Foto: imago images/VCG

"Wenn ich in China bin, bin ich Chinesin. Wenn ich in den USA bin, bin ich US-Amerikanerin", sagte Eileen Gu vor rund zwei Jahren. So einfach sei das. Nun hat Gu Gold im Ski-Freestyle auf der Big-Air-Schanze gewonnen. In China. Für China. Dass noch zwei weitere Medaillen in der Halfpipe und im Slopestyle folgen könnten oder gar werden, gilt ob der beeindruckenden Karriere und Form der erst 18-Jährigen (zweimal WM-Gold, zweimal X-Games-Gold) als wahrscheinlich.

Die in San Francisco geborene Gu wurde von ihrer chinesischen Mutter allein aufgezogen und erlernte das Skifahren am Lake Tahoe, entschied sich 2019 aber plötzlich, nur mehr für ihre "zweite" Heimat anzutreten. Eine persönliche Entscheidung, wie sie betont, die ihr manch US-Patriot noch heute übelnimmt. Nach der Entscheidung soll es Morddrohungen gehagelt haben. Noch heute wird sie online oft undankbare Verräterin genannt. So flexibel Gu ihre duale Identität in einer immer mobileren Welt interpretiert, so steif sind viele behördliche Formalitäten immer noch.

Offiziell erlaubt China keine Doppelstaatsbürgerschaften. Das Internationale Olympische Komitee (IOC) aber fordert, dass alle, die für ein Land antreten, auch dessen Staatsbürgerschaft besitzen. Gu äußerte sich bisher nicht dazu, ob sie ihre US-Staatsbürgerschaft je zurücklegte – wie ihr Kopfsponsor Red Bull einst kurzzeitig auf der Homepage behauptete. Ihr Lebensmittelpunkt ist trotz zahlreicher China-Trips weiter in den USA.

Plötzlich Superstar

In China, wo die Harvard-Studentin Gu bis zum Wechsel ihrer sportlichen Zugehörigkeit quasi niemand kannte, ist sie heute ein gefeierter Star und die Wintersport- und Werbe-Ikone schlechthin. Sie wird liebevoll "Frosch-Prinzessin" genannt, weil sie lange einen grünen Helm trug, bevor das berühmte Blau-Silber des österreichischen Getränkeherstellers ins Spiel kam.An Werbeverträgen mangelt es Gu aber ohnehin nicht. Mehr als zwei Dutzend sollen es sein.

Ein Double-Cork 1620 katapultierte Eileen Gu schließlich aufs oberste Treppchen.
Foto: AFP Fotograf: MANAN VATSYAYANA

Die großgewachsene Gu modelt regelmäßig für die luxuriösen Designhäuser dieser Welt. Auch wenn laut ihrem chinesischen Social-Media-Manager das kommunistische Rot Chinas freilich ihre Lieblingsfarbe ist. Im Vergleich zu anderen chinesischen Athletinnen genießt Gu deutlich mehr Freiheiten, was ihren Social-Media-Auftritt betrifft – auch auf dem in China verpönten Instagram.

Wenn Gu aber, fließend Mandarin mit nordchinesischem Akzent sprechend, traditionelle Knödel zubereitet und dem kulturellen Erbe huldigt, wird ihr niemand widersprechen. Dass sie sich zwar nicht außerordentlich patriotisch, eher frauenrechtlich orientiert, dafür aber auch relativ unkritisch in Menschenrechtsfragen gibt, hilft ihr. Politisch vereinnahmt – etwa durch propagandistische Dokus – wird sie allemal.

Olympische Migration

Seit dem 16. Jahrhundert wächst die chinesische Diaspora in aller Welt. Im Zuge der sportlichen Auferstehung des Reichs der Mitte unter dem fußballbegeisterten Staatspräsidenten Xi Jinping – der Gu einst persönlich nur Tage nach ihrem WM-Titel für die USA in China empfing – werden gut ausgebildete Talente mit chinesischen Wurzeln immer öfter sinisiert. Noch öfter, seit klar wurde, dass sich die gewünschten internationalen Erfolge nicht wie erhofft einstellten– trotz kräftiger Finanzspritzen für Ausbildungszentren.

Mindestens 300 Millionen Chinesinnen und Chinesen wollte die Staatsführung nach dem Zuschlag für Peking 2022 für den Wintersport begeistern. Dennoch wurden 28 der 48 chinesischen Eishockeyathletinnen und -athleten bei den Spielen außer Landes geboren – sechs haben keinerlei Wurzeln im Land.

Spätestens als es bei den 2018er-Spielen im südkoreanischen Pyeongchang bei einer einzigen Goldmedaille für China im Shorttrack blieb, sollen die Alarmglocken geschrillt haben. Gu heimste am Dienstag an Tag vier der Spiele bereits die dritte Goldene für China ein. Unumstritten bleibt die Strategie in einer oftmals xenophoben Bevölkerung wie jener Chinas aber nicht. Eine allgemeine Lockerung der sonst restriktiven Einreisepolitik Chinas wollen Experten aber nicht erkennen.

Bild nicht mehr verfügbar.

Alysia Liu tritt für die USA an.
Foto: AP / Shuji Kajiyama

Identitätstechnisch geht es bei Olympia freilich auch noch komplexer: Da wäre etwa die US-Eiskunstläuferin Karen Chen, deren Eltern aus Taiwan flohen und die das US-Team zu Team-Silber tanzte. Sie liebe China und Taiwan, sagt sie. Oder die für die USA antretende Alysa Liu. Ihre emigrierten Eltern stammen beide aus China, wollten für sie aber eine gemischte Abstammung und entschieden sich für eine US-Leihmutter. Der Vater sah sich als Weltbürger, und das soll auch die Tochter sein. In China wird sie gefeiert wie eine der ihren. (Fabian Sommavilla, 8.2.2022)

Mehr zu Olympia 2022

Kalender und alle Ergebnisse
Medaillenspiegel und Entscheidungen des Tages