Georg Friedrich Haas ist einer der arriviertesten Komponisten.

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Eine intensive Geschichte von Geburt und Tod: Regisseur Immo Karaman inszeniert "Morgen und Abend" an der Grazer Oper direkt und düster.

Foto: Werner Kmetitsch

Um Gottes willen, bin ich schon so alt!" Das war sein erster Gedanke, als Georg Friedrich Haas die Nachricht erhielt, dass er mit dem Großen Österreichischen Staatspreis ausgezeichnet werden sollte. Auch wenn das inzwischen schon wieder 15 Jahre her ist, steckt in diesem Satz vieles, das ihn charakterisiert: Ironie und Schlagfertigkeit, die Mischung aus Bescheidenheit und Selbstbewusstsein des stets eloquenten Komponisten, der nie aus seinem Herzen eine Mördergrube gemacht hat.

Haas, Jahrgang 1953, Professor in Graz und Basel, Träger unzähliger Auszeichnungen, ist einer der wenigen hiesigen zeitgenössischen Musiker, die es tatsächlich zu internationalem Ansehen gebracht haben und nicht nur im Inland weltberühmt sind. Die Kurzbiografie auf der Seite des Musikverlags Ricordi bringt sein Bestreben auf den Punkt, "eine neue Musik zu schaffen, die gleichzeitig expressiv und wohltönend ist – nicht obwohl, sondern weil sie neu ist". 2017 wurde ihm das Erreichen dieses Ziels von 100 Fachleuten quasi amtlich bestätigt, als sie ihm in einer Umfrage der italienischen Musikzeitschrift Classic Voice bescheinigten, die "schönste Musik" des 21. Jahrhunderts zu schreiben.

Dramatischer Sog

Tatsächlich strahlen seine Werke oft einen ungeheuren dramatischen und emotionalen Sog aus, besitzen eine enorme Leuchtkraft, die sich aus einem großen Reichtum an Harmonien ergibt – etwa durch die Verwendung von Obertonspektren und anderen mikrotonalen Strukturen. Haas selbst sagt, dass für ihn "die sinnliche Wahrnehmung, das Hören, im Mittelpunkt steht. Es geht mir nicht um irgendeine abstrakte ,Modernität‘, sondern ich suche nach dem Verlust der Tonalität eine neue Orientierung. Es geht immer um einen unmittelbaren, direkt verständlichen Ausdruck."

Vielleicht hat diese Orientierung an der unmittelbaren Sinnlichkeit, die viele Hörer neuer Musik bei anderen Komponierenden oftmals vermissen, Haas zu so breiter internationaler Resonanz verholfen. Sicher hat sie dazu beigetragen, dass er 2013 zum Professor an der Columbia University New York berufen wurde. Aber erst nach seiner Übersiedelung in die Vereinigten Staaten ließ Haas mit gleich zwei Outings aufhorchen, die weit über die Szene hinaus für Aufmerksamkeit sorgten: Zum einen bekannte er, nicht nur in einer zutiefst nationalsozialistischen Familie aufgewachsen zu sein, sondern deren Gedanken als junger Mensch auch geteilt zu haben. Heute meint er dazu: "Ich fühle mich nicht schuldig. Aber ich fühle Scham und Trauer. Besonders schäme ich mich für das, was ich selbst gedacht und geredet habe. Als Kind, als Jugendlicher, als Student. Ich habe viel zu lange gebraucht, bis ich bereit war, Wahrheit zu sehen."

Uraufgeführt 2015

Zum anderen bekannte der hochsensible Künstler seine sexuelle Vorliebe für BDSM und seine dominante Rolle in der Beziehung zu Ehefrau Mollena, welche die beiden auch im Dokumentarfilm The Artist & the Pervert von Beatrice Behn und René Gebhardt offenlegten – auch, um anderen Mut zu machen, zu ihren Neigungen zu stehen.

Seine kompositorische Energie scheint nach diesen persönlichen Befreiungsschlägen geradezu explodiert zu sein. 2015 wurde seine siebte Oper Morgen und Abend in London uraufgeführt, die nun in Graz gezeigt wird (Regie: Immo Karaman). Wie schon bei Melancholia (2008) stammt das Textbuch von Jon Fosse. "Er ist ein genialer Librettist, der seinen Text ideal für die Oper bearbeitet hat. Da war das Komponieren leicht für mich. Ich brauchte nur Fosse zu folgen", sagt Haas.

Eigenes Erlebtes

Die Geschichte des einfachen Fischers Johannes (in Graz gesungen von Markus Butter), in die Haas mehrfach eigenes Erlebtes einbrachte, erzählt von Geburt und Tod: "Ich war bei der Geburt meiner drei Kinder Franz, Ruth und Sarah dabei. Die grenzenlose Gewalt und Kraft dieses Ereignisses – und meine Sprach- und Hilflosigkeit angesichts dieses Wunders – ist hoffentlich auch in der Oper wahrzunehmen."

Außerdem berichtet Haas von einem Nahtoderlebnis: "Ich wurde wieder zurückgeschickt ins Leben. Auch diese Erfahrung ist eingeflossen. Als ich jene Stelle komponierte, in der sich Johannes vor seiner Frau Erna innerlich löst, war meine eigene geliebte Ehefrau im Nachbarraum. Da denkt man schon auch ans eigene Ende ..."

Wie erklärt sich der Komponist selbst die hohe emotionale Kraft seiner Werke? "Früher war ich überzeugter Christ. Dann habe ich den Glauben verloren. In der schmerzlichen Lücke, die dieser verlorene Glaube hinterlassen hat, befindet sich jetzt die Musik." Seine Kunst erfüllt für ihn allerdings auch eine unabdingbare politische Aufgabe. "Die Gefahr des Umkippens in Faschismus ist groß", meint er zu den jüngeren Entwicklungen dies- und jenseits des Atlantiks.

"I can't breathe"

Aus Solidarität mit der Black-Lives-Matter-Bewegung schrieb Haas etwa sein Stück I can’t breathe für Trompete solo in memoriam Eric Garner. "Es gehört zu den Aufgaben jedes Menschen, sich für mehr Humanität in der Gesellschaft einzusetzen, also auch für Künstlerinnen. Jede Musik ist politisch. Denn sie lebt infolge bestimmter gesellschaftlicher Gegebenheiten. Meine Musik ist menschlich. Das schließt das Politische mit ein. Klare Botschaften kann und will ich nicht predigen. Aber ich will das Virus der Humanität verbreiten." (Daniel Ender, 9.2.2022)