Stumpfsinnige Büroarbeit mache viele Menschen unglücklich, sagt Suzman. Es fehle aber oft an finanziellen Anreizen, etwas anderes zu tun.

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Jeden Tag acht Stunden oder mehr zu arbeiten könnten wir uns eigentlich sparen – und die Zeit stattdessen für sinnvolle und erfüllende Dinge verwenden, sagt der britische Sozialanthropologe James Suzman. Das grenzenlose Streben nach mehr, das für viele der Schlüssel für Wirtschaftswachstum und technologischen Fortschritt ist, ist für Suzman eine Bedrohung für unsere Gesundheit und unseren Planeten. In seinem Buch "Sie nannten es Arbeit", das im vergangenen Jahr erschienen ist, sucht er Lehren aus anderen Kulturen – und findet Ideen, von denen wir lernen sollten.

STANDARD: Wie sieht Ihre Arbeitswoche normalerweise aus?

Suzman: Es ist die Arbeitswoche eines Schriftstellers. Ich verbringe viel Zeit damit, über Dinge nachzudenken. Man macht nicht viel wirkliche Arbeit, aber hört auch nie ganz mit dem Arbeiten auf. Manchmal würde ich gerne lieber etwas Einfacheres machen, wie etwa Obst und Gemüse anbauen. Trotzdem versuche ich, jeden Tag Squash zu spielen und Zeit mit meinen Kindern zu verbringen. Was ich definitiv nicht mehr tun will, ist jeden Morgen in die Arbeit zu pendeln und den ganzen Tag in unnötigen Konferenzen zu sitzen, nur um mich wichtig zu fühlen.

STANDARD: In Ihrem Buch schreiben Sie, dass wir heute mehr arbeiten, als wir eigentlich müssten. Warum?

Suzman: Das ist ein kulturelles Phänomen. Wir leben in einer Kultur, die auf Arbeit fokussiert ist. Unser Wirtschaftssystem ist extrem gut darin, unsere Grundbedürfnisse zu befriedigen. Das führt dazu, dass wir mehr Zeit damit verbringen, in Jobs zu arbeiten, auf die die Welt wahrscheinlich verzichten könnte. Das sind Jobs, die weder viel Wert für uns selbst noch für andere Menschen bringen und die wir erfunden haben, damit eben jeder eine Arbeit hat.

STANDARD: An welche Jobs denken Sie da?

Suzman: Ein Beispiel ist der schier endlose Bürokratieapparat in vielen Ländern. Als in meiner Universität einmal die Heizung ausfiel, dauerte es Monate, bis sie wieder aktiviert werden konnte, weil es so viele Menschen brauchte, um die dafür notwendige Dokumente zu unterzeichnen. Ein anderes Beispiel sind Jobs, bei denen es darum geht, ständig neue Produkte zu produzieren, die kurzlebig sind, die uns nur kurz befriedigen und die wir im Grunde überhaupt nicht bräuchten.

James Suzman ist Sozialanthropologe an der Universität Cambridge. In den vergangenen 25 Jahren lebte er immer wieder bei indigenen Bevölkerungsgruppen im südlichen Afrika.
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STANDARD: Es gibt aber auch viele Jobs, auf die unsere Gesellschaft schwer verzichten könnte, man denke nur an Gesundheitsberufe oder Lehrerinnen und Lehrer. Zugleich finden wohl einige Menschen durchaus Erfüllung in dem, was sie tun.

Suzman: Natürlich gibt es viele essentielle Jobs. Viele würden neben Lehrerinnen, Ärzten, Pflegern oder Polizistinnen auch Künstlerinnen und Entertainer dazu zählen. Das Problem ist, dass vielen Menschen heute der Anreiz genommen wird, in gesellschaftlich nützlichen und erfüllenden Jobs zu arbeiten. Jobs, die viele als unwichtig bezeichnen würden, wie etwa Derivatehändler, Marketing- oder Personalmanager, bieten oftmals wesentlich mehr Gehalt als Jobs, die gesellschaftlich wichtig sind. Es ist ein Teufelskreis: Je mehr wir arbeiten, desto mehr richten wir unsere Gesellschaft und unser Leben nach Arbeit aus. Das hat schwerwiegende Folgen für unseren Planeten, aber auch für uns als Menschen.

STANDARD: Inwiefern?

Suzman: Unnötige Arbeit produziert unnötige CO2-Emissionen, die unser aller Zukunft gefährden. Viele Menschen finden ihre Arbeit eintönig und langweilig. Gleichzeitig führen die Erwartungen, die an unsere Arbeitsleistung gestellt werden, zu Stress, Burnout und anderen Erkrankungen. Das Verhältnis zwischen der Zeit und Energie, die viele in ihre Arbeit stecken, und dem, was sie herausbekommen, ist in eine Schieflage geraten. Von dem, was viele als sinnvoll und erfüllend betrachten, kann heute kaum jemand leben. Das führt zu gesellschaftlichen Ungleichheiten und vernichtet individuelle Potenziale. Wenn Mozart heute leben würde, hätte er wahrscheinlich überhaupt keine Zeit, klassische Musik zu komponieren. Stattdessen würde er Burger in McDonalds braten.

STANDARD: In Ihrem Buch schreiben Sie, dass wir hinsichtlich unserer Work-Life-Balance einiges von anderen Kulturen, insbesondere von noch heute als Jäger und Sammler lebenden Menschen, lernen können. Wie das?

Suzman: Ich habe einige Zeit bei den Ju/’Hoansi in der südafrikanischen Kalahari-Wüste verbracht. Viele würden annehmen, dass diese Gesellschaften raue, kurze und gefährliche Leben führen – leben sie doch oft in den scheinbar unwirtlichsten Gegenden der Welt. Als sich Wissenschafter allerdings mehr mit deren Kultur beschäftigten, stellten sie fest, dass Menschen wie die Ju/’Hoansi lediglich rund 15 Stunden pro Woche damit verbringen, ihre – meist durchaus gesunde und abwechslungsreiche – Nahrung aufzutreiben. Sie haben eine fundamental andere Vorstellung von Arbeit. Eine, in der sich nicht alles um die Erfüllung unendlicher Bedürfnisse dreht, sondern darum, sich auf das zu konzentrieren, was man wirklich zum Leben braucht. Niemand leidet an Überarbeitung oder den vielen Ängsten, die unserem heutigen Arbeitsleben entspringen. Das Verlangen, immer mehr zu haben, ist nicht zwingend Teil der menschlichen Natur.

STANDARD: Ist das nicht eine romantisierte Vorstellung dieser Kulturen? Auf ein gut funktionierendes Gesundheitssystem und einen hohen Lebensstandard würde wohl kaum jemand verzichten wollen.

Suzman: Es geht nicht darum, dass wir wieder wie Jäger und Sammler leben oder auf die Errungenschaften unserer Zeit verzichten. Aber ein Blick auf andere Lebensweisen kann uns einen Denkanstoß geben: Wenn diese Kulturen auf Basis limitierter Ressourcen auf so nachhaltige Weise leben können, dann sollten auch wir mit all unserem technologischen Fortschritt und unserer Produktivität in der Lage sein, nachhaltiger und erfüllter zu leben. Es ist doch ironisch: Umso reicher wir werden, desto länger arbeiten wir. Wir müssen uns von der Vorstellung verabschieden, dass wir als Menschen unendlich viele Wünsche und Bedürfnisse haben. Wir müssen überdenken, was es heißt, erfolgreich zu sein, und unsere Angst ablegen, möglicherweise weniger zu haben als andere. Die Frage ist: Wie können wir unsere Wirtschaft so organisieren, dass mehr gute und weniger schlechte Arbeit verrichtet wird? Um einige Antworten darauf zu finden, müssen wir neue Experimente und Ideen wagen.

STANDARD: Ideen wie eine Viertagewoche oder ein bedingungsloses Grundeinkommen?

Suzman: Das sind beides gute Ansätze. In vielen Ländern wächst das Momentum für die Einführung einer Viertagewoche. Die Pandemie hat uns gezeigt, dass wir unsere Arbeit viel flexibler gestalten können. Die Viertagewoche könnte ein erster Schritt sein, der Arbeit etwas von ihrem Stellenwert zu nehmen. Auch das bedingungslose Grundeinkommen ist ein Experiment, das wir wagen sollten. Es gab ja bereits viele kleine Versuche dazu. Das Problem ist, dass es bisher nicht universell angewendet wurde. Erst wenn jeder in der Gesellschaft ein bestimmtes Grundeinkommen bekommt, können wir sehen, was es mit unserem Verständnis von Arbeit macht. Wir können es uns leisten, die materiellen Grundbedürfnisse von jedem Menschen auf der Welt zu decken. Am Ende hätten wir wahrscheinlich sogar mehr Pflegerinnen, Ärzte, Lehrer, Musikerinnen und andere wichtige Berufe in unserer Gesellschaft als heute.

STANDARD: Werden wir nicht auch durch die Automatisierung künftig mehr Freizeit bekommen?

Suzman: Der britische Ökonom John Maynard Keynes glaubte schon in den 1930er-Jahren, dass Automatisierung dazu führen wird, dass wir bald nur noch höchstens 15 Stunden pro Woche arbeiten müssen. Diese Vorstellung hat sich bekanntlich nicht erfüllt. Trotzdem wird uns Automatisierung schrittweise in diese Richtung führen. Das Problem ist, dass unsere Kulturen sehr lange brauchen, sich an technologische Veränderungen anzupassen. Wir sind sehr gut darin, neue Innovationen zu fördern. Aber es dauert viel länger, bis wir als Gesellschaften diese auch optimal nutzen. (Jakob Pallinger, 15.2.2022)