Der Wecker ist eine tickende Zeitbombe: Schlechter Schlaf macht uns selbst und die Wirtschaft kaputt.

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Um kurz vor sechs, noch vor dem Sonnenaufgang, schrubbt Doreen Schmidt den Boden in der Klinik, reinigt Treppengeländer und desinfiziert Türklinken. Die meisten Patienten schlafen noch, viele Kolleginnen auch, manche von ihnen kommen erst Stunden später. Ist das ungerecht? Nein, das Gegenteil davon. Denn Frau Schmidt ist ein sogenannter chronobiologischer Frühtyp – sie wacht genetisch bedingt früh auf, arbeitet lieber früher und geht dafür früher nach Hause.

In der Klinik Wartenberg in Bayern darf jeder Mitarbeiter, jede Mitarbeiterin nach der eigenen inneren Uhr arbeiten – sofern das möglich ist. Selbstverständlich ist das nicht. Rund 70 Prozent der Bevölkerung arbeiten gegen ihre Programmierung, schätzen Forschende.

Das hat Folgen: Müdigkeit ist nicht nur ein Risiko für die körperliche und psychische Gesundheit, sondern kostet Unternehmen und Staat Milliarden. Eine 2016 erschienene Studie des Thinktanks Rand Europe beziffert den Schaden der Schläfrigkeit in manchen Volkswirtschaften auf bis zu drei Prozent des BIPs. Denn wer müde ist, arbeitet unproduktiver.

Trotzdem gilt Frühaufstehen nach wie vor noch als Tugend. Bücher wie The 5 AM Club liegen im Selbstoptimierungsregal der Buchhandlungen ganz oben, Ex-Kanzler Sebastian Kurz schrieb sich sogar ins Wahlprogramm, Politik für jene zu machen, "die morgens früh aufstehen". Der Unterton: Wer früh aufsteht, der hat sein Leben im Griff.

Das schwierige Leben der Eulen

Dabei weiß man schon seit langem, dass nur knapp ein Fünftel der Bevölkerung genetische Frühtypen, sogenannte Lerchen, sind. Der Rest sind entweder Normal- oder Spättypen, also Eulen. Für Letztere ist der normale Arbeitsalltag oft eine Qual – denn beeinflussen lässt sich der Chronotyp nicht. Wo man auf der Achse zwischen Lerche und Eule steht, wissen viele selbst – herausfinden kann man das aber auch mit einem genbasierten RNA-Test.

In der Klinik Wartenberg haben sich 183 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, rund die Hälfte der Belegschaft, freiwillig einem solchen Test inklusive Fragebogens und Interviews unterzogen. Basierend auf dem Ergebnis versuchte die Klinik dann, die Arbeitszeiten jeder Person chronobiologisch zu optimieren. "Das ist in einer Klinik mit Schichtbetrieb natürlich nicht ganz einfach", gibt Norman Daßler zu, der dort für die Betriebsgesundheit zuständig ist. Wenn man die Prozesse und Abläufe aber genau analysiert, ist vieles möglich – so wie bei Frau Schmidt, die nun frühmorgens jene Bereiche putzt, wo sie niemanden stört.

Auch die Schichten einiger Pflegekräfte beginnen und enden nun so, dass möglichst viele Eulen und Lerchen zufriedengestellt sind. Außerhalb des Schichtdienstes, wie etwa in der Verwaltung, ist es natürlich einfacher, sagt Daßler, der nach seiner Chronotypisierung nun erst um 8.30 Uhr statt um 7.30 Uhr anfängt. Bei vielen Mitarbeitenden ging es nur um 20 oder 30 Minuten, um die der Dienstbeginn verschoben werden musste.

Essen und Licht nach Plan

Das neue Arbeiten nach der inneren Uhr hört aber nicht bei den reinen Dienstzeiten auf. Im Rahmen des Projekts ist etwa angedacht, dass Schichtarbeiter, angepasst an ihren persönlichen Rhythmus, auch zu den richtigen Zeiten vollwertiges Essen in der Kantine bekommen – und nicht nur zur Mittagspause, die eher für Lerchen oder Normaltypen ausgelegt ist. Auch natürliche Beleuchtung spielt bei Leistung und Wohlbefinden eine entscheidende Rolle.

"Viele stehen mittlerweile ohne Wecker auf", sagt Daßler. Die Auswertung der Fragebögen zeigt, dass sich die Belegschaft wohler fühlt, weniger über Kopfschmerzen, Schlafstörungen und Tagesmüdigkeit klagt. Inzwischen ist das Recht auf Arbeiten nach der inneren Uhr in der Klinik sogar in einer Betriebsvereinbarung festgeschrieben. Das sei ein Alleinstellungsmerkmal, das auch bei der Suche nach Angestellten im angespannten Pflegebereich helfe.

Aber nicht alle, die ihren Chronotyp bestimmen lassen, entscheiden sich auch für die Arbeitszeiten, die für ihr Eulen- oder Lerchendasein ideal wäre. Vor allem Spättypen wollen früher arbeiten, um Kinder oder Familie betreuen zu können – oder weil die Arbeitszeit sonst nicht mehr mit ihrer Freizeitgestaltung zusammenpassen würde. Die Welt bleibt schließlich immer noch eine für Lerchen.

Die Utopie einer Stadt, die für Eulen wie auch für Lerchen funktionieren soll, hat sich Michael Wieden ausgedacht. Der auf Chronobiologie spezialisierte Berater hat auch das Projekt in der Klinik Wartenberg konzipiert. Vor rund zehn Jahren machte er Bad Kissingen zur Pilotstadt für eine "Chronocity".

Richtige Arbeit zur richtigen Zeit

Wieden startete bei einem Unternehmen. Dort hätten viele gesagt: Ich würde ja gerne später arbeiten, aber mein Kind muss zur Schule. Wieden besuchte also die Schule. Auch Direktor, Schülerinnen und Schüler wären für einen späteren Schulstart um neun Uhr zu haben gewesen – wäre da nicht das Problem mit den Öffis, die zu einer späteren Zeit nicht fahren. Also zog Wieden weiter zu den Verkehrsbetrieben – und so weiter.

Das Thema ganzheitlich zu denken sei die Grundidee des Projekts der Chronocity gewesen. "Wir wollten raus aus den Unternehmen, rein in die Kommunen", sagt Wieden. Dort sei es dann allerdings irgendwann politisch geworden – und da sei es oft vorbei gewesen mit jeglicher Logik.

"Wir müssen aus klassischen Denkmustern, wie Arbeiten zu funktionieren hat, rauskommen", sagt Wieden. Dazu muss man nicht von heute auf morgen das System umwerfen. Eher müsse man sich grundsätzliche Fragen stellen. Warum muss Schule um acht Uhr beginnen? Wieso wird der Schichtdienst in Unternehmen so oft rolliert, statt dass er den chronobiologischen Bedürfnissen der Mitarbeitenden angepasst wird?

Langsam, aber stetig könnte man so ein Umdenken einleiten. "Wir müssen anfangen, die Arbeitswelt um die Menschen zu biegen – und nicht umgekehrt wie bisher", sagt Wieden. Niemand würde auf die Idee kommen, einer Person mit Schuhgröße 45 einen Schuh der Größe 42 zu geben, weil das eben der Standard ist. "Genau das tun wir aber mit unserem persönlichen Schlaf- und Wachrhythmus."

Jede Minute zählt

Dass wir überhaupt so unterschiedlich ticken, ist auch evolutionsbiologisch begründet. Während die steinzeitlichen Lerchen bereits schlummerten, konnten die Eulen damals Feuerholz nachlegen – oder Säbelzahntiger abwehren. Anthropologen fanden heraus, dass auch in heutigen Jäger-Sammler-Gemeinschaften immer irgendjemand wacht. Wäre eine chronobiologisch perfekte Welt also die sprichwörtliche Stadt, die niemals schläft?

Eine Gesellschaft, die für Lerchen, Eulen (und alles, was dazwischenliegt) perfekt funktioniert, wird es wohl nie geben, sagt Wieden. Wichtig sei es, an 20 Prozent der Stellschrauben zu drehen, die 80 Prozent der positiven Effekte ausmachen.

Vielleicht schaut am Ende für jeden nur eine halbe Stunde mehr Schlaf heraus. Womöglich ist es aber genau jene, die uns immer gefehlt hat. (Philip Pramer, 11.2.2022)