"Ich bin frühzeitig zur Hure geworden, ich habe alles erlebt, was ein Weib im Bett, auf Tischen, Stühlen, Bänken (...) erleben kann, aber ich bereue nichts von alledem." Mit diesem Bekenntnis beginnt Josefine Mutzenbacher oder Die Geschichte einer Wienerischen Dirne von ihr selbst erzählt. In jenem Buch, das sich, 1906 anonym in Wien herausgebracht, in den folgenden Jahrzehnten in unzähligen verfälschten Fassungen und Raubdrucken explosionsartig verbreiten sollte, schildert die fiktionale Prostituierte gereift zurückblickend, wie es mit dem Sex angefangen hat, als sie fünf Jahre alt war. Es ist schwer, auf den gut 200 Seiten in einem Artikel zitierfähiges Material zu finden. Mutzenbacher ist kein Roman mit ein paar Sexszenen. Es sind nur Sexszenen, zusammengehalten von Sexanbahnungsszenen.

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Die Warnung "jugendgefährdend" als Gütesiegel: Schauspielerin Christine Schuberth auf einem Werbeplakat für den 1970 in die Pornokinos gekommenen Sexfilm "Josefine Mutzenbacher". Er wurde ein Erfolg.
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Idealer Stoff für die Sexfilme der 1970er. Im berühmtesten der auf diesen Erinnerungen basierenden Streifen spielt Christine Schu berth die Titelfigur. Es war die Zeit der 68er-Bewegung und ihrer sexuellen Befreiung. Zu dem Film gekommen sei sie damals ihrer kleinen Füße wegen, erzählte Schuberth später. Sie hätte nur ein Kind doubeln sollen, man gab ihr aber die Hauptrolle. Der Film wurde ein Riesenerfolg, spielte in den Pornokinos das Fünffache der Kosten ein. Weitere von der unbeschwerten Dirne inspirierte Filme folgten.

Vorstellungen von Männlichkeit und Sex

Demnächst kommt wieder ein Film mit dem sagenumwobenen Namen Mutzenbacher ins Kino. Erstmals läuft er dieses Wochenende auf der Berlinale, Regie führte Ruth Beckermann. Plakate wie anno 1970 wird es also keine geben. Sexszenen ebenso wenig. Wie verfilmt man diesen Stoff heute, da der Sexualdiskurs und Feminismus sich deutlich weitergedreht haben? Beckermann lässt in ihrer Doku Männer Mutzenbacher lesen und darüber sprechen. Es ist kein Film über die fiktionale Altwiener Prostituierte, sondern einer über aktuelle Vorstellungen von Männlichkeit und Sex, die sich an ihr entfachen und reiben.

1952 geboren, hat Beckermann selbst die Mutzenbacher als Kind entdeckt. "Das Buch wurde natürlich versteckt, aber man hat es gefunden. Entweder im Bücherschrank oder Nachtkastl der Eltern, oder man hat es von Mitschülerinnen gezeigt bekommen. Jeder hat, wenn er das Buch wo aufgetrieben hat, Seiten abgeschrieben und anderen gezeigt." Das Schweigen sei in den 1960ern viel größer gewesen als heute, ebenso aber auch die Neugier. Insofern war die Mutzenbacher auch "anleitend". Und: "In der Mutzenbacher ist immer die Angst dabei, dass jemand etwas erfährt. Das hat den 1950ern bis 1970ern sehr entsprochen, als man sich in Autos, auf Parkbänken oder wo eben etwas stattgefunden hat, immer verstecken musste." Als Jugendlicher konnte man Partner damals nicht mit heimnehmen.

Libertinäre Perspektive

Beckermanns Perspektive auf den Stoff ist keine pornografische, aber eine libertinäre. Aktuelle "Exzesse der Identitätspolitik" findet sie "problematisch". Sie sei "immer interessiert am Anderen im Sinn des Fremden". Dass die Mutzenbacher "ziemlich sicher eine Männerfantasie" ist, stört sie daher nicht. Sie findet das sogar spannend, weil ihr "während der Arbeit an dem Film viele Frauen gesagt haben, dass es auch ein Buch über weibliche Lust ist. Man kann die Mutzenbacher in diesem Sinn auch als weibliches Empowerment lesen. Der Autor hat Frauen ziemlich gut beschrieben."

Wer sich davon selbst ein Bild machen will, kann zu einer jüngst erschienenen Wiener Ausgabe greifen. Dafür haben Clemens Ruth ner, Melanie Strasser und Matthias Schmidt die Erstausgabe ausgeforscht und kommentiert. Nicht jeder Kommentar ist gleich geglückt. Doch versucht der Band eine grundlegende historische Einordnung. Für den Kulturwissenschafter Ruthner handelt es sich bei der Mutzenbacher nämlich um einen "von der Germanistik lange totgeschwiegenen Schlüsseltext der Wiener Jahrhundertwende". Authentisch sind darin nicht nur Körperteile bezeichnende Begriffe wie "G’spaßlaberln" für Brüste. Ruthner nennt die Mutzenbacher einen "Brennspiegel von Stadt- und Sozialgeschichte", in dem sich das Elend der Vorstadt ebenso zeige wie problematische Sexualtheorien (Freuds Abhandlungen vom Kind als sexuellem Wesen) und bürgerliche Doppelmoral. "Wir reden gern von Schnitzler, Hofmannsthal, Altenberg – wenn wir ein historisch korrektes Bild von Wien haben wollen, das nicht nur Tourismusmarke ist, müssen wir aber auch solche Texte in den Blick nehmen." Es gab zur damaligen Zeit schon anklagende Sozialreportagen und eine Literatur von Frauen, die Prostitution als Geschichte von Opfern und Missbrauch erzählt, sagt Ruthner.

Humor gegen Skandalöses

Pädophilie und dass Sex oft gegen den Willen der Frauen initiiert wird, fallen heute besonders negativ auf. Zugleich arbeitet der Autor mit einem Humor, der versucht, Skandalöses am Leser "vorbeizuschummeln", meint Ruthner. So lässt sich die Mutzenbacher letztlich schwer festlegen: Als soziale Anklage ist sie nicht geschrieben, doch steckt eine solche drin. Man könne die Mutzenbacher auf verschiedene Arten lesen, sagt Ruthner: als Porno oder subversiv, wenn Autoritäten wie Pfarrer und Vater durch ihre Geilheit fragwürdig würden.

Ist die Lektüre angesichts heutiger Diskurse ambivalenter denn je? Beckermann rät zu Ironie: "Das sind Fantasien, die Lust machen oder zum Lachen bringen sollen. Ich glaube, das gelingt bei Männern UND Frauen sehr gut." (Michael Wurmitzer, 12.2.2022)