Protestteilnehmer am 12. Februar in Ottawa.

Foto: AFP/Dave Chan

Seit Wochen protestieren zahlreiche Lastwagenfahrer und Unterstützer nahe und in der kanadischen Hauptstadt Ottawa gegen die von der Regierung erlassenen Corona-Regeln. Mitunter kam es zu Blockaden in der Stadt selbst wie auch zu Einschränkungen des Verkehrs zwischen den USA und Kanada auf der Ambassador Bridge, die den nahegelegenen Ort Windsor mit Detroit verbindet. Die protestbedingten Einschränkungen sollen zur Stilllegung der Produktion bei sechs Autoherstellern geführt haben, denen benötigte Teile nicht mehr zuverlässig zugestellt werden konnten. Kanada verlangt unter anderem einen Impfnachweis von Truckern, die aus den USA einreisen.

Im Rahmen der Proteste wurde auch immer wieder von der Belästigung von Passanten durch Protestteilnehmer und laute Hupkonzerte berichtet, gegen die ein Gericht vor rund einer Woche per einstweilige Verfügung ein zehntägiges Verbot erlassen hatte. Zudem wurde medizinisches Personal aufgerufen, keine sichtbare Dienstkleidung in der Öffentlichkeit zu tragen. Seit Samstag geht die Polizei nun gegen den sogenannten Freedom Convoy vor, der in den USA und auch in Europa mittlerweile Nachahmer gefunden hat.

Echtzeitkarte

Nicht nur die Exekutive setzt Maßnahmen. Seit einiger Zeit arbeiten sich auch Online-Aktivisten an den Protesten ab. Ihre Mittel und Wege sorgen teilweise aber für Warnungen vor Selbstjustiz, berichtet "Technology Review".

Ein Aktivist nahm Anfang Februar eine Website namens End the Occupation (Beendet die Besetzung) in Betrieb. Dabei handelt es sich um eine gemeinsam mit anderen Nutzern gepflegte Karte, auf der – mehr oder weniger in Echtzeit – eingezeichnet werden sollte, an welchen Orten Belästigungen dokumentiert wurden.

Der Initiator kontaktierte Stadtrat Shawn Menard und bat ihn um Hilfe, das Tool bekannter zu machen. Dieser teilte den Hinweis auf die Seite schließlich über seinen Twitter-Account. Er sehe die Seite als hilfreiches Werkzeug, um einen Überblick über die Lage zu erarbeiten, über den sonst nur die Polizei verfügt, mit deren Vorgehen er bis dahin nicht zufrieden war. Die Exekutive musste sich vor Beginn der Räumungen immer wieder Vorwürfe gefallen lassen, zu wenig gegen aggressive Protestierende zu tun und sich teilweise mit den Demonstranten zu solidarisieren.

Menards Tweet erhöhte die Bekanntschaft der Karte tatsächlich, die daraufhin schnell Ziel von Angriffen wurde. Nutzer luden pornografische Inhalte, antisemitische, rassistische und frauenfeindliche Beschimpfungen hoch. Der Initiator, dem es nach eigenen Angaben ein Anliegen war, Anwohner vor Protestaktivitäten zu warnen, sah sich dazu gezwungen, die Karte übergangsweise vom Netz zu nehmen.

Doxxing-Kampagnen

Andere gehen aber weiter. Auf einer weiteren Website haben die unbekannten Betreiber die Mission ausgerufen, "alle Betriebe zu identifizieren, die bei der Trucker-Besetzung von Ottawa mitmachen". Das gelte nicht nur für Firmen, Hotels und Restaurants, sondern auch für die Lastwagenfahrer selbst. Damit wolle man dazu beitragen, dass bei zukünftigen Internetsuchen schnell offenkundig sei, was deren "wahre Natur" sei.

Anders ausgedrückt wird auf dieser Seite organisiertes "Doxxing" betrieben. Unter diesem Begriff versteht man die Veröffentlichung von privaten Informationen im Netz, die eine Person identifizieren oder gar ihren Wohnort kenntlich machen. Dokumentiert wird auch ein Instagram-Account, der nicht nur Fehlverhalten von Demonstrierenden festhält, sondern ebenfalls Ausforschung betreibt.

Das ruft bei Experten Besorgnis hervor. Denn einer Offenlegung solcher Daten folgen nicht selten Drohungen gegen die Person selbst oder gegen ihre Familie. Zudem besteht stets die Gefahr, dass jemand falsch identifiziert wird und, im Kontext der Trucker-Proteste, dann plötzlich Personen zum Ziel von Angriffen werden, die mit dem Freedom Convoy gar nichts zu tun haben.

Casey Feisler, Informationswissenschafterin an der University of Colorado, stellt zudem Intention und ethisches Verständnis solcher Doxxing-Kampagnen infrage. Sei es wirklich im Sinne von irgendwem, wenn ein Lastwagenfahrer womöglich gefeuert wird und kein Einkommen mehr hat? Löst dies das Gefühl von Ungerechtigkeit, das jemand vielleicht empfinden mag? Derartiger Online-Aktivismus verleite manche Leute zudem dazu, die Grenze zwischen Online-Aktivismus und Selbstjustiz zu überschreiten und dabei auch strafbare Handlungen zu setzen.

Facebook sperrte Scammer

Schon vor der begonnenen Auflösung der Proteste hat auch Facebook eingegriffen. Wie die Mutterfirma Meta meldete, wurde eine Reihe von Gruppen gelöscht, die eine Unterstützung der Demonstrationen vorgaben, aber eigentlich für betrügerische Zwecke dienten.

Betrieben wurden sie von anderen Ländern aus, darunter Rumänien, Bangladesch und Vietnam. In einigen Fällen waren sie zuerst thematisch anders orientiert, änderten aber in der jüngeren Vergangenheit Name und Beschreibung, um vom Interesse an den Protesten zu profitieren. Vielfach verlinkten sie auf dubiose Webshops, in denen Impfgegner-Merchandise und Donald-Trump-Devotionalien angeboten werden – oder auf Webseiten mit Falschinformationen und zahlreichen Werbebannern.

Sich gegen Regierungsmaßnahmen auszusprechen sei von den Facebook-Gemeinschaftsrichtlinien gedeckt, so Meta, nicht aber die Verbreitung von QAnon-Verschwörungserzählungen und Spam. Dass Betrüger versuchten, sich aktuell prominente Themen zunutze zu machen, sei nicht neu. Man werde die Situation weiter beobachten. (gpi, 14.2.2022)