Neutrinos gelten als die "Geister" unter den Elementarteilchen – und tatsächlich besitzen sie eine ganze Reihe von gespenstischen Eigenschaften: Die zweithäufigsten Partikel nach den Photonen entstehen bei atomaren Zerfallsprozessen, sind elektrisch neutral und sausen annähernd mit Lichtgeschwindigkeit durchs All. Dabei lassen sie sich praktisch von nichts aufhalten: Mühelos passieren sie Planeten und Sterne gleichermaßen. Der österreichische Physiknobelpreisträger Wolfgang Pauli hat ihre Existenz bereits 1930 vorhergesagt.

Weil sie aber herkömmliche Materie mehr oder weniger unbeeindruckt durchdringen und allein über die schwache Wechselwirkung mit ihr interagieren, wurden Neutrinos erst 1956 glaubwürdig nachgewiesen. Dem Standardmodell der Elementarteilchenphysik zufolge dürften sie eigentlich keine Masse besitzen. Allerdings haben einige Experimente mittlerweile das Gegenteil bewiesen, auch wenn man sich äußerst schwer tut, die Masse des gar so flüchtigen Neutrinos zu bestimmen.

1-eV-Barriere durchbrochen

Einem internationalen Forschungsteam ist es nun mit Hilfe einer tonnenschweren "Waage" am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) gelungen, das Rätsel um die Masse des leichtesten bekannten Teilchen des Universums ein Stück weit zu lösen. Die Maßeinheit lautet in diesem Fall aber nicht Gramm sondern Elektronenvolt (eV): Die Physiker konnten mit ihren Experimenten 0,8 eVc–2 als Obergrenze für die Neutrinomasse bestimmen. Damit wurde die sogenannte 1-eV-Barriere durchbrochen – Fachleute feiern das als großen Erfolg.

Blick in das Innere der Neutrino-Waage: Der Hauptspektrometer des "Katrin"-Experiments am Karlsruher Institut für Technologie (KIT).
Foto: Markus Breig, KIT

Weil die Neutrinos so ungern mit ihrer Umgebung wechselwirken, widersetzen sie sich auch meist erfolgreich der wissenschaftlichen Beobachtung. Daher zogen die Wissenschafter ihre Schlüsse aus dem leichter messbaren Zerfall herkömmlicher Materie: Bei dem Karlsruhe-Tritium-Neutrino-Experiment (kurz "Katrin") wird im Vakuum die Energieverteilung beim Beta-Zerfall von Tritium, ein instabiles Wasserstoff-Isotop, untersucht.

Immer präzisere Messungen

Aber auch dafür ist ein enormer technischer Aufwand notwendig: Das 70 Meter lange Experiment beherbergt die weltweit intensivste Quelle von Tritium sowie ein riesiges Spektrometer, mit dem sich die Energien der Zerfallselektronen mit bisher unerreichter Präzision messen lassen. Die hohe Qualität der ersten Daten nach der Inbetriebnahme im Jahr 2019 konnte in den letzten beiden Jahren kontinuierlich gesteigert werden. "'Katrin' läuft als Experiment mit höchsten technologischen Anforderungen nun wie ein perfektes Uhrwerk", sagt Projektleiter Guido Drexlin vom KIT.

Schematische Darstellung des "Katrin"-Experiments.
Grafik: Leonard Köllenberger für die KATRIN Kollaboration

Die Auswertung der gesammelten Daten stellte das internationale Team vor große Herausforderungen: Jeder Einfluss auf die Neutrinomasse, so klein er auch sein mochte, musste detailliert untersucht werden. Die Ergebnisse des ersten Messjahres und die Modellierung auf Basis einer verschwindend kleinen Neutrinomasse passten perfekt zusammen: Daraus habe sich eine neue Obergrenze für die Neutrinomasse von 0,8 eVc–2 bestimmen lassen, erklären die Wissenschafter. Zum Vergleich: ein Elektron besitzt die Masse von 511.000 eVc–2 – und das ist schon ein ausgesprochenes Leichtgewicht unter den Elementarteilchen.

Es wird weiter gewogen

"Die Teilchenphysik-Gemeinschaft ist begeistert, dass die 1-eV-Barriere von 'Katrin' durchbrochen wurde", sagt John Wilkerson von der University of North Carolina, Koautor der im Fachjournal "Nature Physics" erschienenen Studie. Weiteren Messungen sollen bis Ende 2024 die bisherigen Resultate noch präzisieren. Dabei spiele die Entwicklung des neuen Detektorsystems "Tristan" eine besondere Rolle, mit dem sich "Katrin" ab 2025 auf die Suche nach "sterilen" Neutrinos im keV-Massenbereich begeben soll. Solche sterilen Neutrinos kämen auch als Kandidaten für die mysteriöse Dunkle Materie in Frage, so die Forschenden. (tberg, red, 14.2.2022)