Luther (links) und Cody Dickinson sind die Gründer der Band North Mississippi Allstars und als solche progressive Traditionalisten.

Foto: Jason Thrasher / New West Records

Am Ende geht es um Magie. Dieses ephemere und zart-esoterische Phänomen hat es der Kunst angetan. In der Musik wird es oft jenen Momenten zugeschrieben, in denen sich Gefühl und Verständnis vereinen. Bestellen lassen sich diese nicht, es gilt also beständig daran zu arbeiten, sie herzustellen, und mit etwas Glück läuft gerade ein Aufnahmegerät mit. Selbst dann ist nicht garantiert, dass der Funke, der die Musiker entzündet hat, auf das Publikum überspringt.

Dennoch galt es James Luther Dickinson als oberstes Ziel, diesen Moment herzustellen und festzuhalten. Dickinson war ein Typ, der mit den Rolling Stones gespielt hat, mit Bob Dylan, Aretha Franklin oder Ry Cooder, und der Dutzende, teils legendäre Platten wie die Dritte von Big Star als Mann hinter den Reglern verwirklichen half. Die beiden Söhne des 2009 gestorbenen Musikers und Produzenten pflegen dieses Erbe eindringlich. Und zwar mit der Gruppe North Mississippi Allstars (NMA). Jüngstes Dokument dieser Arbeit ist ihr Album Set Sail.

Die NMA verstehen sich als offenes System. Zwar hat die Gruppe mit den Brüdern Luther und Cody Dickinson fixe Säulen, doch deren Mission erfordert Offenheit. Das führt dazu, dass sie ihren Gästen viel Platz einräumen, ja, man wird kaum uneitlere Bandleader finden als die beiden.

Die Allstars spielen Southern Music. Das ist ein schwammiger Begriff, der mehr über die Geografie aussagt als über die Musik. NMA stammen aus dem US-Süden und spielen alles, was sich dort über die Jahrzehnte entwickelt und bastardisiert hat. "Deep down and dirty" lautet die Vision. Wobei das "dirty" als Gütesiegel verstanden wird, das sinnbildlich für jene unreine Authentizität steht, die so vieler Musik ursprünglich zugrunde liegt.

World Boogie

Die Wurzel hier ist selbstverständlich der Blues, die Abzweigungen und Knospen dieses Stammbaums führen durch die Sümpfe zum Rock, zum Soul, zu Country, Folk und was immer dem Teufel gerade noch so alles einfällt. "World Boogie" nannte ihr Vater diese Musik einmal im Überschwang der Begeisterung.

New West Records

Die boomt seit Jahren und ist immer dann am besten, wenn sie sich in Balance mit dem Fortschritt befindet und nicht bloß nachbaut, was vor 30, 40, 50 Jahren schon gespielt wurde. Dan Auerbach samt seinem Label Easy Eye Sound ist einer der Player in diesem Fach, das Label Fat Possum, auf dem Auerbach mit The Black Keys groß wurde ebenso und natürlich Jack White, der Bube von den White Stripes.

Gespiegelte Biografien

NMA sind keine Verherrlicher wie Jack White. Sie errichten keine Schreine für Helden, sie versuchen lieber, mit ihnen zu spielen. Das können Veteranen sein oder deren Nachwuchs, in denen sich ihre eigenen Biografie spiegelt. Luther und Cody Dickinsons sind in ihren 40ern, aufgewachsen in den Juke Joints lokaler Bluesmusiker wie Junior Kimbrough.

Der ist einer eingeschworenen Gemeinde ein Begriff, berühmt sein wollte der gar nie, wichtiger war, mit seinesgleichen eine gute Zeit zu haben. Das führen NMA fort, wobei eine Traditionspflege abfällt, die frei ist von musealem Mief, sondern eben dreckig und lebendig. Dass das nicht im Widerspruch zur Eleganz steht, zeigt Set Sail.

New West Records

Das Album hat eine Soul-Breitseite, ist weniger roh, sondern so edel wie ein Polyesteranzug am Wochenende in einer Säuferbude, in der zwischen Pooltisch und Häusltür ein Tanzboden unter Bier steht. Um dort das Tanzbein und den Arsch adäquat zu schwingen, erheben Lamar Williams oder Sharisse Norman ihre Stimmen. Das ergibt eine Soulmusik mit Slide-Gitarre, in einer Mischung aus Blues- und Hochgefühl.

Dass die Dickinsons mittlerweile zu den Zentralgestirnen dieser Southern Music zählen, illustriert jemand wie William Bell. Der war einer der Stars des Stax-Labels und fand über die Doku Take Me To The River zu den Dickinsons.

Unübliche Paarungen

Der nach einem Song von Al Green benannte Film dokumentierte die Einflüsse alter Souldiven wie Mavis Staples, Bobby Blue Bland und eben William Bell auf nachgeborene Rapper wie Snoop Dogg – samt Kollaborationen. Zusammengeführt hatten sie die Dickinsons – keine Selbstverständlichkeit in einer gegenwartsgetriebenen Kultur, gerade in den USA.

Doch der Erfolg gibt NMA recht. Seit ihrer Gründung 1996 sind sie ein großer Name fürs einschlägige Publikum geworden. Auch in Europa kennt man sie – zumindest in England und auf diversen europäischen Festivals haben sie gespielt. Set Sail ist ein weiteres Angebot, diese erstaunliche Band kennenzulernen, magische Momente selbstverständlich inbegriffen. (Karl Fluch, 15.2.2022)