Walter Pois vor einem aufgelassenen Grab am evangelischen Friedhof Matzleinsdorf.

Foto: Andy Urban

Ein Grab mit Melanzani, Tomaten, Sellerie, Schnittlauch, Salat und Erdbeeren.

Foto: Walter Pois

Wilhelm Teuschler mit einer typischen Grabgestaltung auf dem Zentralfriedhof.

Foto: Robert Newald

Vor den Mauern des evangelischen Friedhofs in Favoriten, einen Steinwurf vom Matzleinsdorfer Platz entfernt, dröhnt und rauscht es von allen Seiten: von den Autos am mehrspurigen Verkehrsknotenpunkt, von der Großbaustelle für die geplante U-Bahn-Station. Walter Pois aber sagt über den Friedhof Matzleinsdorf, den er leitet: "Im Sommer ist das eine kleine Oase inmitten der Großstadt." Dann verwandle sich die Begräbnisstätte in einen Park: Kastanienbäume, Rosen und Lavendel blühen, Meisen und Fledermäuse ziehen in die aufgestellten Nistkästen, Bienen und Hummeln ins Insektenhaus, Falken und Enten ziehen ihre Kreise, ab und zu auch Füchse. Und auf den Gräbern wachsen neuerdings nicht nur Blumen und Gras, sondern auch Obst und Gemüse: Cocktailtomaten, Ribiseln, Kohlrabi, Brombeeren und Petersilie.

Pois, 50 Jahre alt und aus Niederösterreich stammend, ist gelernter Gärtner. Als er den Friedhof Matzleinsdorf im Jahr 2006 übernahm, begann er sich Gedanken zu machen, wie sich dieser zukunftsfit gestalten ließe. 8.600 Gräber werden hier betreut und gepflegt, 1.500 von ihnen stehen leer. Nun ist zwar bekanntlich nichts so sicher wie der Tod. Doch die Art der Grabgestaltung verändert sich. Immer mehr Menschen entscheiden sich für eine naturnahe Variante, weg von dicken Granitplatten, hin zu Pflanzenbewuchs.

Ein Beweggrund dafür ist die Verbindung zur Natur, ein anderer, dass die Kosten der Grabpflege entfallen. Vor drei Jahren hat der Friedhof der Stadt ein angrenzendes Grundstück abgekauft. Dort sollen ab 2023 Urnenbeisetzungen stattfinden. "Das Naturnahe gehört zum Friedhof dazu", sagt Pois. Der Gärtner hatte eine Idee: Favoriten ist einer jener Randbezirke, in denen Wien wächst. Flächen zum Gärtnern aber sind auch im zehnten Bezirk rar. Also beschloss Pois, ungenutzte Flächen auf seinem Friedhof gegen ein Entgelt in Höhe einer Grabmiete für die Bepflanzung anzubieten.

Projekt Obst und Gemüse

Vor fünf Jahren ging er das Projekt an, wobei er sich immer noch "langsam vortastet", wie er sagt. Zunächst erhielt jeder Mitarbeiter und jede Mitarbeiterin des Friedhofs die Möglichkeit, auf jeweils zwei Gräbern Obst und Gemüse anzubauen – allerdings ausschließlich auf aufgelassenen. Das Angebot wurde angenommen – und fand Nachahmung. Allmählich begannen auch einige Angehörige, auf ihren Gräbern alles von Heidelbeeren über Radieschen und Karotten bis hin zu Mangold und Kohlsprossen einzusetzen.

Sie können geerntet und gegessen werden. Ihre Wurzeln reichen nicht bis zu den einen Meter unter der Erde liegenden Särgen hinunter. Die rechtliche Grundlage für die Grabgestaltung gibt prinzipiell das Wiener Leichen- und Bestattungsgesetz vor. Es regelt unter anderem, dass der Sarg Vor- und Familiennamen der Verstorbenen enthalten oder der Leichensack aus Kunststofffolien biologisch abbaubar sein muss. Darüber hinaus legen die Friedhöfe ihre Bestimmungen selbst fest. Diese verbieten das Einsetzen von Pflanzen mit starken Wurzeln, da sie das Grab schädigen oder bei Beerdigungen im Weg sein können. Walter Pois weiß, dass sein Projekt dennoch ein heikles ist.

Der Anblick von Salatköpfen und Erdbeeren habe schon für Unmut gesorgt. "Da war am Anfang durchaus Unwohlsein da", sagt Pois. Das habe sich inzwischen aber gelegt, vor allem durch zahlreiche Gespräche. Diese führt Pois hier ohnehin oft: "Wir sind ein kleinerer Friedhof, es gibt nur einen Eingang. Man begegnet sich also unweigerlich, ich kenne fast alle vom Sehen." Inzwischen sei die Akzeptanz da. Also ging Pois einen Schritt weiter: Er vermietet nun an jede Person, die das möchte, unbenutzte Grabflächen.

Asche zu Asche

Mit dem Tod steigt dem christlichen Glauben zufolge die Seele in den Himmel auf. Der Körper ruht unter der Erde, wo er im Lauf der Jahrzehnte zu Staub zerfällt. Bei einer naturnahen Beisetzung geht die Asche noch schneller in die Erde über. Nehme man den Gedanken vom Übergang des Lebens zum Tod und wieder zum Leben her, sagt Poier, dann sei die Idee der Gemüse- und Obstpflanzung eigentlich gar nicht so abwegig: "Ein Friedhof ist auch Lebensraum. Das ist hier ja nicht nur ein Ort des Todes, sondern auch der Begegnung." Und so schweben ihm bereits weitere Ideen vor: Lesegräber etwa, an denen Bücher getauscht werden können.

Pois selbst ist römisch-katholisch, was von der Offenheit des ersten evangelischen Friedhofs der Stadt zeugt. Eröffnet wurde er 1858. Als der Platz nicht mehr ausreichte, richtete man 1904 auf dem Zentralfriedhof einen Bereich für Evangelische ein. In Matzleinsdorf lagen allerdings schon kurz nach der Einweihung auch Katholiken begraben – unter ihnen einige hochrangige Staatsbeamte aus der Zeit des Habsburgerreichs, die Suizid begangen hatten. Denn wer sich als Katholik selbst tötete, erhielt keine katholische Beisetzung.

Sie ruhen deshalb noch heute auf dem Matzleinsdorfer Friedhof. Auch einige jüdische Verstorbene finden sich hier, ein paar Muslime, einige Baptisten und Menschen ohne Bekenntnis. Neuerdings nehmen vor allem die orthodoxen Beisetzungen zu. Sie machen inzwischen ein Drittel bis die Hälfte aller Neubelegungen aus – und brachten auch neue Rituale und Bräuche. Im Gegensatz zu den österreichischen Sitten kommen viele Angehörige nicht nur kurz zu Besuch, sprechen ein Gebet, trauern im Privaten und gehen wieder. Stattdessen, erzählt Pois, werden öfters Essen und Getränke gebracht, man speist und trauert gemeinsam, unterhält sich. Manche bleiben etliche Stunden zu Besuch.

Sehenswürdigkeit Zentralfriedhof

Im Mittelalter waren die Friedhofsgepflogenheiten ähnlich. Wiener Grabstätten waren ein Ort des öffentlichen Lebens. Hier wurde gefeiert und gehandelt. Verstorbene wurden in direkter Nähe zu Kirchen in der Innenstadt beigesetzt. Aus hygienischen wie auch aus Platzgründen verlagerte man sie allmählich an den Stadtrand. 55 Friedhöfe zählt Wien heute, 46 davon sind in städtischer Hand. Zählt man Letztere zusammen, dann ergeben sie eine Fläche, die größer ist als die Donaustadt, der weitaus größte Wiener Bezirk.

Der Zentralfriedhof ist nicht nur der weitflächigste von ihnen, er zählt auch zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Stadt. Auch dort "liegen die naturnahen Gestaltungen schon länger klar im Trend", bestätigt Wilhelm Teuschler, Betriebsleiter der Gärtnerei der Friedhöfe Wien.

Der Drang nach Individualität und Nähe zur Natur nehme zu. Wer will, kann sich unter einem Baum oder Strauch, auch einem Familien- oder Freundschaftsbaum oder in einer Regenwasserurne bestatten lassen. Bei der Wahl der Pflanzenart seien die Vorlieben aber weitgehend gleich geblieben, sagt Teuschler: Gewünscht sind meist Rollrasen, Bodendecker wie Efeu oder Tannenreisig. Lediglich der Klimawandel habe manche Blumenarten zurückgedrängt. Die, die Trockenheit besser aushalten, werden vermehrt eingesetzt. Die "schöne Wienerin" sei früher auf jedem zweiten Grab gewesen, heute finde man sie kaum mehr. Gemüse oder Obst allerdings ist ihm hier noch nicht untergekommen. (Anna Giulia Fink, 15.2.20222)