Eigentlich sollte man mit gesunder, ausgewogener Ernährung ausreichend mit Mikronährstoffen versorgt sein – aber die wenigsten Menschen halten sich tatsächlich an die Empfehlungen und essen fünf Portionen Obst und Gemüse täglich.

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Es gibt ein neues Wundermittel unter den Nahrungsergänzungsmitteln, wenn auch mit einem etwas speziell klingendem Namen: Spermidin. Fast jeder große Anbieter von Supplement-Produkten hat ein entsprechendes Präparat im Sortiment. Doch was ist das überhaupt? Es handelt um ein biogenes Polyamin, das seinen Namen dadurch erhalten hat, weil man es zuallererst in besonders großen Mengen im männlichen Sperma entdeckt hat. Mittlerweile weiß man, dass es in jeder Zelle zu finden ist und man es auch über die Nahrung aufnimmt, es befindet sich in Vollkornprodukten, Obst, Gemüse oder auch in Nüssen. Und es werden ihm jede Menge positive Wirkungen zugeschrieben.

"Spermidin ist entzündungshemmend, wirkt sich positiv auf die Gefäßgesundheit aus und hilft, den Blutdruck zu senken", weiß Stefan Kiechl vom Department für Neurologie und Neuochirurgie an der Med-Uni Innsbruck. "Außerdem verbessert es die kognitiven Fähigkeiten und unterstützt den Prozess der Autophagie, das ist das zelleigene Recyclingprogramm. Vor allem bei älteren Menschen verlangsamt sich das nämlich. Nimmt man über die Nahrung höhere Spermidin-Mengen auf, verbessert das tatsächlich Denkvermögen und Gedächtnisleistung, wie eine große Beobachtungsstudie zeigen konnte."

Solche Nachrichten passen perfekt in die Erzählung von der heilenden Kraft von Vitaminen, Spurenelementen, Mineralstoffen und Antioxidantien. Der Markt ist groß, in jedem Drogeriemarkt gibt es ein Regal mit entsprechenden Präparaten. Und auch ein eigener komplementärmedizinischer Bereich, die orthomolekulare Medizin, setzt sich damit auseinander.

Berühmter Initiator

Der Begriff stammt aus dem Griechischen und bedeutet so viel wie "der richtige Baustein", erklärt der Allgemeinmediziner Harald Stossier. Er ist Mitbegründer des Referats für Komplementärmedizin in der Ärztekammer und Diplomverantwortlicher des orthomolekularen Fortbildungsangebots. "Es handelt sich dabei um ein Bindeglied zwischen der universitären und der komplementären Medizin. Die Bedeutung von Vitaminen und Mikronährstoffen ist bekannt und etabliert in der universitären Medizin. Aber die orthomolekulare Medizin geht in der Anwendung weit über das hinaus, was man diesen Substanzen gemeinhin an Bedeutung zubilligt."

Geprägt wurde diese medizinische Richtung vom zweifachen Nobelpreisträger Linus Pauling. Er ist einer von nur vier Personen, die diese Auszeichnung zweimal bekommen haben – allerdings erhielt er sie nicht in Medizin, sondern für Chemie und Frieden. Seine These: Mit hochdosiertem Vitamin C könne man sich vor so gut wie allen Krankheiten schützen, von Grippe bis zu Krebs. Heute beschränkt sich die orthomolekulare Medizin nicht auf Vitamin C, sie geht davon aus, dass man mit den richtigen Nährstoffen in der optimalen Dosis Krankheiten vorbeugen, sie behandeln oder sogar heilen könne.

Drei Bereiche der Anwendung

Dafür hat man drei Bereiche definiert, in denen Substitution eingesetzt werden kann. Siegfried Kober, mittlerweile pensionierter Allgemeinmediziner, Notarzt und Obmann der Akademie für Orthomolekulare Medizin, erklärt: "Der erste und verbreitetste Bereich sind Nahrungsergänzungsmittel, wie man sie in Drogeriemarkt, Apotheke oder auch Fachgeschäften bekommt. Sie sind für gesunde Menschen zur Verhinderung eines Mangels gedacht, also nicht als Medikament, sondern als Ergänzung."

Der zweite, sehr kleine Bereich behandelt definierte Stoffwechselstörungen, durch die der eigene Körper etwa bestimmte Aminosäuren selbst nicht herstellen kann, die man dann substituiert. Und dann kann man Mikronährstoffe auch noch als Medikamente einsetzen: "Das kann aber nur in den Händen einer Ärztin oder eines Arztes liegen. Da geht es um die Dosis, in der ein Mikronährstoff gegeben wird, das muss genau abgestimmt werden."

Zielgruppe für so eine Behandlung seien etwa Menschen, die Medikamente einnehmen und deshalb Nährstoffe nicht so gut aufnehmen können. Das treffe zum Beispiel zu, wenn regelmäßig ein Magenschutz eingenommen wird. Auch Menschen mit Vorerkrankungen, die die Nährstoffaufnahme hemmen, können davon profitieren. Ein Beispiel dafür ist Morbus Crohn: "Bei dieser chronisch entzündlichen Darmkrankheit ist die Nährstoffaufnahme massiv gestört, daraus können viele Folgeerkrankungen entstehen." Weitere mögliche Anwendungsgebiete seien die Unterstützung für eine bessere Verträglichkeit einer Chemotherapie oder eine Begleitung für chronisch Kranke.

Kober betont: "Man arbeitet mit Stoffen, die im Körper ohnehin vorhanden sind, die meisten sind völlig untoxisch. Eine gezielte Anwendung gehört aber immer in entsprechend medizinisch ausgebildete Hände, da es doch einige Gefahrenquellen gibt." Fettlösliche Vitamine wie Vitamin D etwa können überdosiert werden, ebenso einige Spurenelemente wie Kupfer oder Selen. "Aber in den allermeisten Fällen ist das Schlimmste, was passieren kann, dass nichts passiert."

Medizinischer Graubereich

Das bestätigt auch Harald Sitte. Der Pharmakologe leitet das Wahlfach Komplementärmedizin: Esoterik und Evidenz an der Med-Uni Wien, das sich im laufenden Semester den Bereich Orthomolekulare Medizin kritisch vornimmt. "Kein Mensch wird anzweifeln, dass Vitamine lebensnotwendig sind. Das sind Stoffe mit hochwissenschaftlichem Hintergrund." Es gebe auch klare Hinweise darauf, dass das Substituieren von Mikronährstoffen hilft, etwa beim Zusammenhang von Vitamin C und Skorbut, aber "es gibt in dem Bereich auch ganz viel Schindluder. Diese Disziplin ist im Graubereich zwischen universitärer und komplementärer Medizin angesiedelt."

Schindluder wird etwa dann getrieben, wenn es um lukrative Geschäftsmodelle wie individuelle Nährstoffanalysen im Netz geht: In einem Fragebogen klickt man Informationen zu Alter, Geschlecht und Lifestyle an, wie viel Sport man macht, ob man sitzend arbeitet, gibt Infos zur Ernährung und mehr. Diese Angaben werden dann ausgewertet, man bekommt eine Aufstellung, welche Mikronährstoffe man brauche und jede Menge Tipps für gesunden Lifestyle. "Das Ganze kostet dann 60 Euro pro Monat oder mehr, und der gesundheitliche Mehrwert ist schwierig zu bewerten", betont Sitte. "Das ist ein Geschäftsmodell, bei dem man einen Graubereich in der Wissenschaft ausnutzt und daran verdient. Falsch machen kann man nicht viel, Mikronährstoffe sind ja an sich notwendig und wichtig und erst bei hoher Überdosierung toxisch."

Auch entsprechende Angebote, für die man ein paar Blutstropfen einschickt, seien Fake, bestätigt Orthomolekularmediziner Kober: "Vergessen Sie das, das ist wirklich Geschäftemacherei. Man kann aus einem Tropfen Blut nicht in einer Standard-Analyse herausfinden, welche Nährstoffmängel ein Mensch hat." Das können nur wenige Labore, die sich auf Mikronährstoffanalysen spezialisiert hätten. Und Kober nennt ein Beispiel: "Bestimmt man etwa den Kalziumspiegel im Blut, bekommt man bei einem sonst gesunden Menschen in der Regel einen Normalwert. Man muss ihn deshalb über die Zelle oder den Urin bestimmen."

Langer Weg zum Mangel

Dass viele – oder eigentlich fast alle Menschen – Mikronährstoffmängel haben können, sind sich die Experten einig. Beinahe alle in unseren Breitegraden haben etwa einen mehr oder weniger ausgeprägten Vitamin D-Mangel. Über die Nahrung kann man nicht genügend aufnehmen, und es ist bei uns nur sehr schwer möglich, ausreichend davon über die Sonneneinstrahlung zu bekommen. Vor allem im Winter steht die Sonne auch einfach zu tief dafür.

Nur was das bedeutet, dazu gibt es unterschiedliche Ansichten. Klar ist: So offensichtlich erkennbar ist ein Mangel nicht. Kober erklärt: "Man wird nicht sofort krank, weil einem manche Dinge fehlen. Aber die Resilienz des Immunsystem ist verschlechtert, man ist anfälliger für Krankheiten."

Als Beispiel nennt er den immer wieder kommunizierten Zusammenhang eines schweren Covid-19-Verlaufs und eines Vitamin-D-Mangels: "Man hat die Mikronährstoffversorgung von Betroffenen untersucht und gesehen, dass eigentlich niemand mit einem normalen Vitamin D-Spiegel auf der Intensivstation landet." Pharmakologe Sitte sieht das differenzierter: "Es gibt tatsächlich Publikationen, die einen Zusammenhang zwischen dem Vitamin-D-Spiegel und dem Verlauf einer Covid-19-Erkrankung zeigen." Etwa in einer Studie, die kürzlich im Journal PLOS One veröffentlicht wurde. Die Kernaussage: Je niedriger der Vitamin D-Spiegel ist, desto schwerer der Verlauf der Erkrankung.

Aber, betont Sitte: "Die Erkenntnisse sind retrospektiv, die Studie wurde im Nachhinein erstellt – und die berechtigte Frage ist, ob alle Kofaktoren wie Alter und Vorerkrankungen ausreichend in die Untersuchung eingeflossen sind. Dagegen gibt es eine Studie mit prospektiv gemessenen Daten aus Indien, die hat keinen Zusammenhang zwischen Vitamin-D-Spiegel und schwerem Verlauf festgestellt. Und prospektive Erkenntnisse sind üblicherweise wissenschaftlich deutlich belastbarer. Was das zeigt, ist die Notwendigkeit weiterer, guter und ausreichend groß dimensionierter Studien, um den Sachverhalt zu klären."

Selbstverschuldetes Fehlen

Allen Unklarheiten über die Wirkungsweise der Supplements zum Trotz: Mangelzustände gibt es. Zwar sollte man mit ausgewogener, gesunder Ernährung entsprechend der offiziellen Ernährungsempfehlungen, gut versorgt sein, aber so essen die meisten Menschen leider nicht, sagt Michael Wäger, Biochemiker, Ernährungswissenschafter und Leiter des Wissenschaftsteams beim Nahrungsergänzungsmittelhersteller Biogena: "Wie viele Menschen ernähren sich nach den empfohlenen Richtlinien, mit fünf Portionen Obst und Gemüse täglich? Und wie viel Fastfood, Zucker und Junk isst man?" Dazu komme ein fast immer zu hoher Fleischkonsum, Alkohol und außerdem ein Lifestyle mit viel Stress – all das sorge dafür, dass man mehr Mikronährstoffe brauche.

Wäger betont dabei, dass er Nahrungsergänzungsmittel keinesfalls als alleinigen Ersatz für andere Behandlungsmethoden sieht: "In vielen Fällen muss man zur klassischen Medizin greifen, etwa bei einem unbekannten Virus." Aber: "Wir gehen Hand in Hand mit der klassischen Medizin, es gibt viele Synergien und Ergänzungen."

Damit ist etwa gemeint, dass man nicht immer gleich zu schweren Medikamenten greifen müsse: "Bei einer leichten oder mittelschweren Depression oder bei gelegentlichen Schlafstörungen muss es nicht sofort ein Antidepressivum oder ein Schlafmittel sein. Es gibt Mikronährstoffe, die da helfen können, ohne besondere Nebenwirkungen und mit sehr guter Verträglichkeit."

Im Alleingang soll man das nicht machen. Im Bedarfsfall rät er zur fachlichen Beratung durch Menschen, die sich mit Mikronährstoffpräparaten auskennen, sowie ärztlicher Begleitung. Bei einer schweren Depression etwa seien Medikamente absolut wichtig, sagt Wäger: "Bei ernstzunehmenden Beschwerden soll man sich unbedingt von medizinischem Fachpersonal einen Therapieplan entwerfen lassen. Wir arbeiten deshalb auch mit Partnerärztinnen und -ärzten zusammen."

Die richtige Dosierung

So könne auch vermieden werden, dass eine falsche Dosierung zur Anwendung kommt, meint Wäger: "Wir sind der Meinung, weniger ist mehr. Natürlich kann man mehr zu sich nehmen als nötig, vor allem bei den wasserlöslichen Vitaminen ist das kein Problem, der Körper scheidet diese einfach wieder aus. Ich halte das jedoch ohne triftigen Grund für nicht sinnvoll."

Problematisch kann eine Überdosierung theoretisch bei fettlöslichen Vitaminen werden, wie etwa Vitamin D, das kann sich im Körper ansammeln. Das kann aber nicht passieren, wenn man sich an die empfohlene Anwendungsdosis hält, da sind sich alle Experten einig. Gefährlich wird es nur, wenn man etwa ein ganzes Fläschchen Vitamin-D-Tropfen auf einmal zu sich nimmt. In einem Bereich rät Wäger jedoch zur Vorsicht: "Es gibt auch viele pflanzliche Wirkstoffe, da ist es wirklich wichtig abzufragen, ob die Person gleichzeitig Medikamente einnimmt, es kann nämlich zu Wechselwirkungen kommen. Hier rate ich definitiv zu einer professionellen Beratung."

Zurück zum Spermidin. Neurologe Kiechl sieht definitiv Potenzial in dem Stoff: "In Bezug auf allgemeine kognitive Fähigkeiten und auch bei beginnender Demenz habe ich durchaus Hoffnungen, dass wir damit eine Besserung erreichen können. Aber einstweilen fehlen noch Interventionsstudien und damit der Beweis." Das soll sich aber ändern, im nächsten Jahr startet seine Abteilung mit zwei Studien zum Thema. (Pia Kruckenhauser, 20. Februar 2022)