Das 1,5-Grad-Ziel lebt – aber das Zeitfenster für eine Rettung schließt sich rasant: Eine Analyse kam vor zwei Jahren zu dem Schluss, dass die Welt die 2010er-Jahre praktisch ungenutzt verstreichen ließ – was so viel bedeutet wie: Der notwendigen Aufwand, um die Erwärmung bei plus 1,5 Grad Celsius zu stoppen, ist enorm gewachsen. Mittlerweile müssten die Treibhausgasemissionen jedes Jahr mindestens um sieben Prozent sinken, um irgendwie hinzukommen.

Ende Oktober erwischte es Alexandria im US-Bundesstaat Virginia. Schwere Regenfälle führten dazu, dass man die geschichtsträchtige Altstadt mit dem Kanu erforschen konnte.
Foto: AFP/ANDREW CABALLERO-REYNOLDS

Das tun sie aber keineswegs – im Gegenteil: Der jährliche Bericht der Weltorganisation für Meteorologie (WMO) kam im vergangenen Oktober zu dem Schluss, dass die Konzentration der Treibhausgase sogar im Corona-Jahr 2020 weiter zugenommen hat. Der CO2-Wert lag mit 413,2 ppm (Moleküle pro eine Million) erneut auf einem Rekordniveau – ja, der Anstieg war sogar stärker als der Durchschnittszuwachs der Jahre 2011 bis 2020. Im Mai 2021 registrierten Forschende der US-Wetter- und Ozeanografiebehörde Noaa auf dem Mauna Loa, Hawaii, 419,13 ppm. 2019 lag der globale Durchschnitts-Kohlendioxidwert bei 410,7 ppm.

Die aktuellste Messung stammt vom 13. Februar 2022: Das kalifornische Forschungszentrum Scripps Institution of Oceanography meldete einen Tageswert von 421,29 ppm, ebenfalls auf dem Mauna Loa. Dort steht die älteste Kohlendioxid-Messstation der Welt: Seit 1958 messen US-Wissenschafterinnen und -Wissenschafter damit die CO2-Konzentration in der Atmosphäre. Als die Untersuchungen dort begannen, lag der CO2-Wert noch bei 317 ppm.

Auch für Europa keine rosigen Prognosen

Die Nachlässigkeiten der letzten Jahrzehnte zeigen sich mittlerweile für alle sichtbar unter anderem an den steigenden Meeresspiegeln. Prognosen aus dem vergangenen Juni lassen für einige Küstenregionen Europas bis 2100 einen Anstieg um einen Meter befürchten. Eine Studie, die nun von mehreren US-Forschungsinstituten veröffentlicht wurde, weist für die Küsten der USA in eine ganz ähnliche Richtung, was das Tempo der Veränderungen betrifft: Laut dem Report der Umweltbehörde Noaa, der Raumfahrtbehörde Nasa und einiger weiterer Institutionen wird das Meer an den US-Küsten in den kommenden 30 Jahren so stark steigen wie in den vergangenen 100 Jahren.

Grafik: Regionale lineare Anstiegsraten des Meeresspiegels (mm/Jahr): (a) 1993–2006, (b) 2007–2020 und (c) 1993–2020.
Grafik: Noaa

Der Sea Level Rise Technical Report liefert nach eigenen Angaben die aktuellsten Projektionen des Meeresspiegelanstiegs für alle US-Bundesstaaten und Territorien. Die Modelle basieren auf jenen des Sechsten Sachstandsberichts des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC), die Daten stammen großteils aus Gezeitenpegel- und Satellitenbeobachtungen. Das Ergebnis der Berechnungen: Entlang der Küste dürfte das Meeresniveau bis 2050 – mir regionalen Variationen – im Schnitt um 25 bis 30 Zentimeter steigen.

Mehrmals im Jahr statt einmal alle paar Jahre

Der Bericht vermittelt auch Informationen zu gezeiten-, wind- und sturmbedingten extremen Wasserständen, bildet also das aktuelle und zukünftige Risiko für Überflutungen an den unterschiedlichen Küstenabschnitten ab. Die Forschenden gehen davon aus, dass Küstenüberschwemmungen künftig auch ohne Stürme oder starke Regenfälle häufiger auftreten dürften.

"Bis 2050 wird erwartet, dass moderate Überschwemmungen mehr als zehnmal so häufig auftreten wie heute", sagte Nicole LeBoeuf, Direktorin des National Ocean Service. "In der Realität bedeuten diese Zahlen, dass manche Orte jedes Jahr mehrmals von Flutereignissen heimgesucht werden, die bisher nur alle zwei bis fünf Jahre vorkamen."

Video: Briefing zum Sea Level Rise Technical Report.
usoceangov

Von 1901 bis 2018 stieg der Meeresspiegel dem im August 2021 veröffentlichten Sachstandsbericht des Weltklimarats IPCC zufolge um 20 Zentimeter. Bis 1971 seien es 1,3 Millimeter pro Jahr gewesen, im Mittel der Jahre 2006 bis 2018 stieg er laut IPCC fast dreimal so schnell – 3,7 Millimeter pro Jahr. Selbst im günstigsten Szenario rechnen die Forschenden bis 2100 mit einem Anstieg von 28 bis 55 Zentimeter im Vergleich zu den Jahren 1995 bis 2014. Aber auch ein Anstieg um zwei Meter bis 2100 und von mehreren Metern im kommenden Jahrhundert sei demnach – abhängig vom Umfang der Eisschmelze – nicht ausgeschlossen.

"Dieser Report untermauert die Ergebnisse bisheriger Studien und bestätigt, was wir eigentlich schon lange wissen: Der Meeresspiegel steigt in einem alarmierenden Ausmaß und bringt Menschen weltweit in Gefahr", sagte Nasa-Chef Bill Nelson. "Die Faktenlage ist klar und fundiert, jetzt geht es um dringendes Handeln, um diese schon fortschreitende Klimakrise in den Griff zu bekommen."

Anstieg einbremsen

Trotz all dem existiert noch ein kleiner Lichtblick, das Fenster ist noch nicht völlig geschlossen: Im Mai vergangenen Jahres veröffentlichten Forschende im Fachjournal "Nature" eine Studie, wonach sich auch der Anstieg des Meeres zumindest einbremsen ließe: Würde die globale Durchschnittstemperatur bei plus 1,5 Grad Celsius stehen bleiben und sich auch bis 2100 nicht verändern, könnte das Abschmelzen der Eisschilde und Gletscher deutlich verringert werden. (tberg, 16.2.2022)