Heute arbeitet Bianca Gschmeidler als Zugbegleiterin. Bald will sie Sozialpädagogik studieren und selbst Jugendbetreuerin werden.

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Es war ein Tag in den Sommerferien vor knapp zehn Jahren. "Da habe ich meinen Mut zusammengenommen und bin zum Jugendamt gegangen", sagt Bianca Gschmeidler. Damals war sie 13 Jahre alt. Wo das Büro ist, wusste sie schon, weil ihre Familie in der Vergangenheit schon mit Sozialarbeitern zu tun gehabt hatte. "Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich es wieder machen, weil danach ging es mir besser", sagt die heute 24-Jährige.

Rund 13.000 Kinder und Jugendliche in Österreich leben nicht bei ihren Familien. Sie werden im Zuge der "Vollen Erziehung" von Organisationen der Kinder- und Jugendhilfe betreut. Das Jugendamt kann diese Maßnahme anordnen, wenn eine altersgerechte Betreuung in der Familie nicht gegeben ist. Die Gründe für einen solchen Schritt können zum Beispiel Vernachlässigung oder häusliche Gewalt sein.

Loyalitätskonflikte

Gewalt, Vernachlässigung und Alkoholismus spielten auch in der Kindheit von Bianca Gschmeidler eine Rolle. "Bei uns war es nicht wie in einer normalen Familie mit Liebe zeigen und so", erklärt sie. Das wusste sie schon als Kind, weil sie es bei ihren Schulkolleginnen sah. Da habe man abends auch mal zusammen gesessen und Zeit miteinander verbracht. "Mit mir wurde zu Hause nicht normal geredet, sondern eher abwertend", erzählt sie. Vor allem ihre Mutter habe ihr wenig Aufmerksamkeit geschenkt. "Vielleicht weil sie es selbst nicht anders kannte aus ihrer Kindheit", sagt Gschmeidler.

Die Entscheidung, selbst aktiv zu werden, sei keine leichte gewesen, erzählt Gschmeidler. "Weil ich mich wie eine Verräterin gegenüber meinen Eltern gefühlt habe", sagt sie. Den Wunsch, nicht mehr zu Hause zu leben, habe sie aber schon lange gehabt. Als sie den Sozialarbeitern erzählte, wie es ihr zu Hause ging, sei das für sie eine Erleichterung gewesen.

"Dieser Loyalitätskonflikt zu den Eltern begleitet viele von unseren Jugendlichen", sagt Christina Seeland, pädagogische Leiterin beim SOS-Kinderdorf. "Man muss dann viel Verständnis zeigen und ihnen oft auch eine Art gesunden Egoismus beibringen." In Familien, wo Vernachlässigung ein Thema sei, komme es oft zu einem Rollentausch zwischen Eltern und Kindern. "Dass Kinder selbst zum Jugendamt gehen, ist aber eher die Ausnahme", sagt Seeland.

Kontakt zu Eltern bleibt

Die Entscheidung, dass sie in eine betreute WG von SOS-Kinderdorf zieht, traf Gschmeidler schließlich mit ihren Eltern und dem Jugendamt zusammen. Später wechselte sie dann ins betreute Wohnen, wo sie auch Christina Seeland kennenlernte. SOS-Kinderdorf stellt "Trainingswohnungen" zur Verfügung, in denen Jugendliche ab 16 alleine leben, aber in regelmäßigem Kontakt mit ihren Betreuerinnen stehen. Gschmeidlers Bezugsbetreuerin und Vertrauensperson wurde Natasa Polić.

"Ich glaube, ich habe vor allem Aufmerksamkeit gebraucht", sagt Gschmeidler zu Polić. "Bei euch wusste ich, ich kann immer anrufen und ich kriege sie." Die beiden wirken vertraut. Über "das eine oder andere Auf und Ab", wie sie sagen, können sie heute lachen. "Du wirst als Pädagogin eigentlich für alles gebraucht", sagt Polić. "Im Prinzip bist du Lehrerin, Ärztin, Psychologin und vieles mehr gleichzeitig." Fast wie eine Mutter eben. Aber dann doch auch nicht ganz. "Es gibt schon Grenzen, aber es ist auch sehr intim", sagt Seeland. Und Gschmeidler bestätigt: "Mutter hätte ich euch nicht genannt."

Die Elternarbeit ist außerdem ein wichtiger Bestandteil in der Kinder- und Jugendhilfe. Auch Gschmeidler war an den Wochenenden regelmäßig bei ihrer Familie. Aber eben nur dann, wenn sie das auch wirklich wollte. "Nichts passiert, wenn das Kind das nicht will", betont Seeland. Die Pädagogen und Pädagoginnen sollen eine Ergänzung zu der Herkunftsfamilie sein. "Die Jugendlichen sollen sich die Rosinen herauspicken können", sagt Seeland.

Ab 18 ist alles anders

Mit der Volljährigkeit endet allerdings die Zuständigkeit des Jugendamts. Eine Betreuung bis 21 kann man beantragen und wird in vielen Fällen auch ermöglicht. "Aber das ist nicht institutionalisiert. Und das wäre ein großer Wunsch von uns, dass standardmäßig eine Betreuung bis 21 möglich ist", sagt Seeland. Durchschnittlich leben Jugendliche in Österreich bis 25 bei ihren Eltern, im europäischen Schnitt sind es sogar 26 Jahre. "Mit 18 Jahren ist man in den aller seltensten Fällen so weit, um völlig auf eigenen Beinen zu stehen", sagt Seeland. "Warum sollte das bei unseren Jugendlichen anders sein?"

In Österreich ist die Kinder- und Jugendhilfe Ländersache, die Gegebenheiten sind daher recht unterschiedlich. Vorreiter ist das Burgenland, dort wurde die Möglichkeit der Betreuung bis zum 24. Lebensjahr ausgedehnt. So lange können Jugendliche auch in die Betreuung zurückkehren, wenn sie es brauchen. "Darüber sind wir sehr glücklich", sagt Gerald Herowitsch-Trinkl, Obmann des Dachverbands Österreichischer Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen und selbst Leiter einer therapeutischen WG. Eigentlich brauche es aber überhaupt einen Rechtsanspruch auf Betreuung über die Volljährigkeit hinaus, fordert er. Denn auch im Burgenland ist das gesetzlich nur eine Kann-Bestimmung. "Was sage ich einem Jugendlichen, der mich mit 14 fragt: 'Wer ist für mich da, wenn ich einmal studieren will?' Dann kann ich nur sagen, ich hoffe, dass dein Antrag auf Verlängerung bewilligt wird. Wenn es einen Anspruch gibt, ist das eine ganz andere Sicherheit", sagt Herowitsch-Trinkl.

SOS-Kinderdorf hat für Jugendliche nach ihrem Auszug eine eigene Anlaufstelle eingerichtet. Die wird allerdings nicht vom Staat, sondern aus Spenden finanziert.

Erfolgreich auf eigenen Beinen

Für Gschmeidler ging der Schritt in die Eigenständigkeit gut über die Bühne, sagt sie. Während ihrer Zeit im SOS-Kinderdorf hat sie eine Lehre als Einzelhandelskauffrau abgeschlossen und später eine Ausbildung zur Zugbegleiterin gemacht. Aktuell macht sie die Studienberechtigungsprüfung, damit sie Sozialpädagogik studieren und selbst Jugendbetreuerin werden kann. "Da habe ich mich durchaus von meinen Betreuerinnen inspirieren lassen", sagt sie.

Ihre Freunde wohnen teilweise heute noch bei ihren Eltern. Das Gefühl, dass ihr im Leben etwas fehlt, habe sie aber nicht, sagt Gschmeidler. "In meinem Freundeskreis bin ich immer die Ratgeberin", sagt sie und ergänzt: "Mit Krisen kann ich nämlich mittlerweile ganz gut umgehen." (Johannes Pucher, 19.2.2022)