Wien – Acht Minuten. "Alles im grünen Bereich." Der Blick aufs Handy gibt Gewissheit. Antony nickt zufrieden, schwingt sich vom E-Bike, schält sich aus der rosa Jacke und wirft sich zu seinen Kollegen auf die Couch aus Holzpaletten.

Die Pandemie treibt die Geschäfte der Turbolieferanten an. Nicht alle sind gekommen, um zu bleiben.
Foto: Christian Fischer

"Go fast or go home", steht an einer Tafel über ihnen geschrieben. Dennoch geben sich die jungen Kuriere locker. Musik fließt durch ihr Hub am Ende der Wiener Kärntner Straße. Einer nach dem anderen reitet aus, um Kunden mit Lebensmitteln zu bedienen. Dazwischen bleibt Zeit für "Battles", sagt Antony, der die Mannschaft als "Rider Captain" anführt und familiäres Arbeitsklima verspricht. Der aktuelle Rekord für eine Runde um den Ring? "14 Minuten".

Minuten zählen

Schweizer Uhren wurden in der Filiale einst verkauft, ehe ein chinesischer Taschenhändler einzog. Nun verrät ein schlichter Zettel an der Glastür den Berliner Botendienst Flink als neuen Mieter.

Der Online-Supermarkt wirbt auf seiner Homepage mit Lieferungen innerhalb von zehn Minuten bis an die Haustür. In Wien lockerte er den Zeitrahmen erst auf eine Viertelstunde, nun auf "Minuten". Seit Oktober arbeitet sich das von Investoren wie Rewe mit Kapital gespeiste Start-up von den Außenbezirken in die Innenstadt vor.

Im Lager stapeln sich 2.800 verschiedene Produkte, von Obst, Getränken, Sushi, Pizzen über Katzenfutter bis hin zu Backrohrreinigern. "Picker" packen sie nach Onlinebestellungen via App in Säcke. "Warehouse Operater" und "Shift Leader" managen Bestände und Mitarbeiter.

Ein Klingeln beendet die Zigarettenpause der "Rider": Einkauf rein in den Rucksack, rauf aufs Radl. Das Smartphone als Kontrollinstanz und Wegweiser misst die Zeit bis zum Läuten am Haustor. Ist den Wienern wirklich jede Minute wichtig, um die sie Bier oder Bananen flotter bekommen?

Einst wurden hier Uhren verkauft. Nun dominiert Supermarkt-Sortiment. Bestellt wird online via App.
Foto: Christian Fischer

Bei roter Ampel über Kreuzungen zu jagen, braucht es dafür nicht, versichert City-Managerin Sofie. Die gesamte Logistik wurde auf Effizienz getrimmt, die schnelle Lieferung sei realistisch berechnet. 9,85 Euro gibt es für die Stunde Arbeitszeit brutto, eine 40-Stunden-Woche bringt netto 1.370 Euro im Monat ein.

Anders als mancher Rivale, der seine Leute ohne soziale Absicherung fahren lässt, stellt Flink seine hunderten Wiener Mitarbeiter an sieben Lagerstätten fix und unbefristet an.

Goldgräberstimmung

Corona beflügelte erst die Essenszusteller. Nun macht sich bei mobilen Supermärkten Goldgräberstimmung breit – wobei der Bedarf überschaubar ist. In Österreich wiegt das Onlinegeschäft der Branche weniger als 700 Millionen Euro. Das sind allein drei Prozent des Lebensmittelmarktes. Das Gros davon ist Tiefgefrorenes alteingesessener Anbieter wie Bofrost und Eismann.

Lebensmittelhandel ist damit die letzte Bastion des E-Commerce. Der erste Anlauf junger Eroberer hierzulande scheiterte. Zuper und Yipbee hießen sie und waren allesamt so schnell, wie sie kamen, wieder verschwunden. Doch im Sog der Digitalisierung und aufgeblasen durch die Pandemie wagten sich neue Start-ups aufs Parkett. In ihnen ballen sich Milliarden Euro an Risikokapital.

Viel verbranntes Geld

Ihr Ziel ist es, die neuen Amazons der Supermärkte zu werden. Expandiert wird vielfach ohne Rücksicht auf Verluste. Konkurrenz wird durch Übernahmen aus dem Weg geräumt. Die größte Hürde ist die Suche nach immer knapper werdendem Personal. Denn dieses begehrt angesichts prekärer Beschäftigung zusehends auf.

Der US-Lieferriese Doordash, bekannt durch aggressives Wachstum, investierte in Europa hunderte Millionen Euro in Flink. Mit der Übernahme der finnischen Wolt will er Delivery Hero, in Österreich unter der Marke Mjam aktiv, und die Lieferando-Mutter Just Eat Takeaway in die Schranken weisen. Von Istanbul aus drängt Getir gen Norden. Experten erwarten, dass sich der mit Milliarden Dollar bewertete Zusteller auch an Österreich versucht.

Sein tschechischer Rivale Rohlik wächst in Wien mit Gurkerl rasant. Der US-Blitzlieferdienst Jokr wiederum soll die Bremse ziehen. Anfragen des STANDARD zum kolportierten Rückzug aus der Bundeshauptstadt blieben unbeantwortet.

Expandiert wird rasant, das begrenzte Potenzial an Personal bremst.
Foto: Christian Fischer

Es ist eine Schlacht auf defizitärem Markt, in den auch Platzhirsche des konventionellen Lebensmittelhandels wie Rewe und Spar, die sich für Lieferungen länger als eine Stunde Zeit geben, mehr Geld stecken, als dieser hergibt.

"Dienstbotengeschäft"

"Kapital ist genug da. Hauptsache, die Story passt – auch wenn neun von zehn Start-ups pleitegehen", meint Andreas Kreutzer. Der Marktforscher spricht nicht von der neuen Freiheit auf zwei Rädern, sondern von einem mager bezahlten Dienstbotengeschäft. Er bezweifelt, dass sich dieses wirtschaftlich je rechnet. Dafür seien die Kosten für Logistik und Löhne zu hoch.

Einkaufsservice an sich sei nichts Neues, gibt Christof Kastner zu bedenken. Der Großhändler, der Online-Supermärkte wie Gurkerl und Alfies mit Sortiment bestückt, erinnert an Kaufleute auf dem Land und soziale Dienste, die ihre Kunden seit Jahrzehnten direkt beliefern.

Geld verdienen lässt sich, glaubt er, auf Dauer nur mit klar abgesteckten Zeitfenstern für die Zustellung, wie sie der Onlinehändler Picnic offeriere. Noch schwieriger werde es, wenn sich Amazon selbst im großen Stil ins Lebensmittelgeschäft werfe und dieses quer subventioniere. Der wohl mächtigste Konkurrent jedoch komme gar nicht aus den eigenen Reihen – dieser sei vielmehr Essen und Trinken außer Haus.

Wenige Anbieter überleben

Macht die Rückkehr der Österreicher in die Gastronomie einem Gutteil des Liefermarktes den Garaus? Nein, sagt Gurkerl-Chef Maurice Beurskens. Der Webspezialist startete während der Pandemie mit 200 Mitarbeitern. Derzeit sind es 900, bis Jahresende sollen es 2.000 sein.

Beurskens sieht sich auf gutem Weg, die Wiener mit immer breiterem Sortiment innerhalb von drei Stunden zu bedienen. Ziel seien ihre Wocheneinkäufe. Aufträge unter 30 bis 40 Euro machten aufgrund ausufernder Kosten wirtschaftlich keinen Sinn, glaubt er. Beurskens vergleicht den Hype in der Branche mit jenem rund um E-Scooter: Letztlich überlebten nur wenige Anbieter.

Flink sieht sich den Einkauf "revolutionieren" und will nach Wien in Städten wie Graz und Innsbruck wachsen. 1,80 Euro zahlen Kunden für die Lieferung. Zahl und Wert der Order sind ebenso Betriebsgeheimnis wie interne logistische Abläufe. Die Geschäftsmodelle der Start-ups freilich ähneln sich. Man beäugt einander mehr denn je mit Argusaugen.

In Wien-Wieden wird derweil eilig ein Sackerl durch den Türspalt eines noblen Wohnhauses seiner neuen Eigentümerin ausgehändigt. Trinkgeld gibt es keines. (Verena Kainrath, 18.2.2022)