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Wo liegt die Grenze zwischen notwendiger Mahnung zur Vorsicht und übertriebener Panikmache?

Foto: Picturedesk.com / Westend61 / Stefan Rupp

Die Königin von England ist ein begehrtes Opfer für Witze aller Art. Das Meme mit einem Bild von ihr, Krone auf dem weißen Haupt, darunter das Wort "Omikron", habe ich im Dezember 2021 sicher zehnmal über diverse Chatkanäle zugeschickt bekommen. Sie finden das nicht so lustig? Ich auch nicht. Seien wir milde. Es ist der Versuch, sich nach bald zwei Jahren Pandemie angesichts der neuesten Corona-Mutante mit Humor aus diesem elenden Und ewig grüßt das Murmeltier-Zustand zu retten.

Man lächelt also milde. Ganz im Innersten empfindet man aber genau die Sorge, die von Virologen und Virologinnen mit wissenschaftlich korrekten Aussagen wie "Wir wissen noch nicht, wie gefährlich Omikron wirklich ist!", befeuert wurde. Nur eines war klar: Die Omi, um die es hier in Wahrheit geht, hat keinen Ärger mit Söhnen und Enkelkindern, sie wird Ärger machen, sie ist infektiöser als alle Vorgängermutanten von Corona.

Muss ich mich daher wieder einmal fragen, wo ich mich überall anstecken könnte? Darf ich wieder nur zum Spazierengehen und zum Einkaufen raus auf die Straße? Es kann bitte nicht sein, dass zwei Impfungen und ein Booster mich nicht halbwegs vor einem schweren Corona-Verlauf schützen. Soll denn alles umsonst gewesen sein?

Die Unsicherheit, die in dieser Aussage steckt, erinnerte mich an das Frühjahr 2020, als man noch wenig wusste über das Virus und wie es sich verbreiten kann. Nur über die Luft? Womöglich auch durch Schmierinfektion? "Kann ich die Eingangstüre des Hauses noch angreifen", fragte mich damals eine Nachbarin. Ich gab weise, überlegte Ratschläge: Nach dem Nach-Hause-Kommen gründlich die Hände waschen, das sollte doch genügen. Es lag mehr Hoffnung als Wissen in meiner Antwort.

Gekommen, um zu bleiben

Von Anfang an war der innere Drang da, viel über Corona zu erfahren. Deshalb saugte ich Informationen auf wie ein Schwamm. Ich hörte mehr Radio als jemals zuvor in meinem Leben, registrierte die Infektionszahlen wie Lottospieler die Zahlen nach der erfolgten Ziehung, hörte von Freunden und Bekannten immer mehr Fragen, ob man sich nicht allein beim Einkaufen schon anstecken könnte.

Man sei ja Wissenschaftsjournalist, kenne sich aus. Ich kannte mich natürlich nicht aus. Wie auch? Nicht einmal die, über deren Arbeit ich schreibe, denen ich zahllose Fragen stelle – die Wissenschafter und Wissenschafterinnen – wussten weiter.

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Ein bisher unbekanntes Virus legte die Welt lahm.
Foto: Picturedesk.com / Westend61 / Katharina und Ekaterina

Ein bisher unbekanntes Virus legte die Welt lahm. Die Wissenschaft warnte ja schon lange, dieser Fall würde einmal eintreten, sie sprach auch von reinem Glück, dass Sars, der Vorläufer, 2002/2003 relativ kurz wütete und wieder von der Bildfläche verschwunden ist. Doch Sars-CoV-2 ist gekommen, um zu bleiben.

Von Anfang an fragte ich mich, wie gehe ich damit als Teil einer Risikogruppe, als Typ-1-Diabetiker, um? Die Autoimmunerkrankung ist gut eingestellt: Aber man soll ja besonders gefährdet sein, bei einer Infektion einen schweren Verlauf zu haben. Doch wie schwer ist schwer? Intensivstation, hängen an Beatmungsgeräten, kämpfen ums Überleben?

Gefangen im Albtraum

Es ist November 2020. Als ich langsam wieder zu mir komme, habe ich das Gefühl, inmitten eines Albtraums gefangen zu sein. Ich sitze am Boden des Schlafzimmers im Haus auf dem Land, vor mir ein Notarzt, ein Sanitäter. Ich bin verschwitzt, meine Frau neben mir, sie wirkt sehr beunruhigt.

Ihr Sohn aus erster Ehe, jung, groß, stark, freiwilliger Ersthelfer beim Roten Kreuz, steht vor mir und sagt: "Peter, erkennst du mich?" Mir ist, als hätte ich diese Frage schon mehrere Male gehört. "Peter, erkennst du mich?" Und dann wieder: "Peter!"

In den nächsten Minuten höre ich, dass ich wie wild um mich geschlagen habe, offensichtlich sei der Zuckerspiegel in den Abgrund gestürzt, ich habe um mich geschlagen und geschrien.

Als Diabetiker weiß ich, das kann passieren, aber ich weiß auch, das dürfte nicht passieren. Das Gehirn toleriert häufigen oder lang andauernden Glukosemangel nicht, es kann zu weitreichenden Schädigungen kommen. Man kann aber auch mit einem blauen Auge davonkommen.

Ins Nichts rutschen

Der hypoglykämische Schock zeigt sich für Laien wie ein epileptischer Anfall: Die Muskeln zucken, der Körper verkrampft sich, man schwitzt, Beine, Arme, Oberkörper, Kopf führen zitternde, teilweise ruckartige Bewegungen aus, man gibt nicht mehr wirklich menschliche Laute von sich. Ich hatte, wie man mir sagt, die Augen weit aufgerissen, gerade so, als hätte ich Todesangst. Für meine Frau und ihren Sohn muss das ein Moment absoluter Überforderung gewesen sein.

Wer ist schon davor gewappnet, dass der Partner eines Nachts derart entgleitet? Für mich fühlte sich der Schock wie der Kampf gegen das Abrutschen in ein großes Loch an. Ein böser Traum, das Rutschen ins Nichts, das schaurige Gefühl, dass ich mich nirgends erfolgreich festhalten kann fast wie ein entkräfteter Bergsteiger, der kein Seil mehr hat, um den Absturz zu verhindern.

Nur nicht ins Spital

In der Realität gibt es glücklicherweise das ideale Werkzeug, um nicht abzustürzen. Ein anderer freiwilliger Ersthelfer vom Roten Kreuz verabreicht mir eine Glucose-Infusion. Auch dagegen soll ich mich gewehrt haben. Zu dritt haben sie es dann geschafft. Also habe ich wohl wirklich wild um mich geschlagen. Habe ich jemanden verletzt? Nein, höre ich, ich entschuldige mich mehrmals, es ist mir peinlich.

Wie konnte mir so etwas nach so vielen Jahren Typ-1-Diabetes passieren? Der Arzt meint in bestimmtem Tonfall: "Wir müssen ihn einweisen!" Wie das klingt! Habe ich so schlimm randaliert? "Nervenklinik?", frage ich also verstört. "Aber nein", beruhigt man mich lächelnd, "in die interne Abteilung des Spitals zur Beobachtung für eine Nacht."

Ich lehne ab. Im Kopf habe ich die Bilder von der ersten Corona-Infektionswelle in Europa, von Intensivstationen aus Norditalien. Von Menschen, die auf Balkonen stehen und durch Straßen und Etagen getrennt gemeinsam singen, um einander Mut zu machen. Und ich erinnere mich an Berichte von Menschen, die sich erst im Spital angesteckt haben.

In dieser Nacht im November 2020 habe ich eingesehen, auch ich bin einer aus der Gruppe, die sie vulnerabel nennen. Dieses kalte, technische Wort für eine zutiefst menschliche Eigenschaft, nicht mehr bei 100 Prozent zu sein, ob nun durch eine Erkrankung wie Diabetes oder durch fortgeschrittenes Alter. Vulnerabel! Können Sie nicht verwundbar, verletzbar sagen?

Das Wort hämmerte am kommenden Tag in meinem Kopf wie ein pochender Schmerz; vulnerabel, vulnerabel. Ich habe seit mehr als 20 Jahren Typ-1-Diabetes, weil die Insulin produzierenden Inselzellen der Bauchspeicheldrüse von meinem überschießenden Immunsystem zerstört wurden. Bisher lebte ich eigentlich ganz gut damit.

Gespaltene Welt

"Wie konnte das passieren?", fragte Tage später der Diabetologe. Wir sprachen recht lange darüber – das Ergebnis: Stress, Ermüdung beim Zuckermanagement, fehlende Konzentration. "Haben Sie vielleicht zu viel gearbeitet?" Ich erzählte, wie für mich die ersten Monate der Pandemie verliefen.

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"Mir fehlte die Distanz zur Arbeit, weil sie im Wohnzimmer stattfand, mir fehlte die Nähe zu klugen Köpfen, um Corona besser einordnen zu können": Peter Illetschko.
Foto: Picturedesk.com / Westend61 / Giorgio Magini

Die Welt schien sich schon im Frühjahr 2020 zu spalten – in eine Wissens- und eine Glaubensgemeinschaft. Da waren diejenigen, die sich nach Fakten richteten, erkannten, dass diese Pandemie als schwerwiegend einzuschätzen sei, und diejenigen, die das alles nicht glauben wollten oder konnten.

Es gab Kollegen und Kolleginnen, die meinten, das Virus werde nicht schlimmer sein als die saisonale Grippe, und andere, die in jeder Sitzung Todesangst vermittelten. Die einen sagten: "Die Leute sind doch immer schon gestorben." Die anderen machten sich ständig Sorgen. Dazwischen ich mit Typ-1-Diabetes. Ich nahm deshalb viele Warnungen vor Corona sehr ernst, wollte mich aber nicht verrückt machen lassen.

Panik als Lösungsversuch

Wir wussten alle nichts, und heute wissen wir auch nur, dass wir noch viel lernen müssen, um mit dem Virus leben zu können, und wir wissen, dass wir dabei ruhig bleiben müssten. Am Anfang war das ja nicht so – viele Menschen hatten plötzlich Sorge, die Nahrungsmittelversorgung könnte zusammenbrechen. Warum sie dann wie wild Klopapier kauften, bleibt wohl unbeantwortet. Die Angst wurde wie so vieles auf Social Media verbreitet und von vielen Menschen recht offen aufgenommen. Wenn man nicht mehr weiterweiß, ist Panik ein Lösungsversuch des auf Notstromversorgung laufenden Verstands.

Die Pandemie oder vielmehr ihr Abbild in der Gesellschaft ist wie ein schlecht gemachter Film über eine unsichtbare tödliche Gefahr. Ich erinnere mich noch an Szenen in Supermärkten, die ihresgleichen suchten: Hektik in der Gemüse-Obst-Abteilung im März 2020, man nahm sie nicht, man schnappte Karotten, Zucchini oder Ähnliches und versuchte hektisch, einander auszuweichen. Niemand trug damals einen Mund-Nasen-Schutz, auch ich nicht.

Acht Millionen Experten und Expertinnen

Ich wusste, dass auf die Wissenschaft Verlass ist, dass man einen guten Impfstoff finden würde. Da waren aber noch andere Probleme: Wirtschaftskrise, die offenkundige Spaltung der Gesellschaft. Dazu ein Regierungschef, der statt Aufklärung Populismus betrieb. Wie sagte er noch? Jeder würde bald jemanden kennen, der an Corona gestorben ist. Ich fragte mich: Welche Expertise hat der Mann für eine derartige Prophezeiung? Wo war die Grenze zwischen notwendiger Mahnung zur Vorsicht und übertriebener Panikmache?

DER STANDARD

Genau das Gegenteil hat er schließlich im Frühjahr 2021 kommuniziert: Die Pandemie sei überstanden, stand auf Plakaten zu lesen. Zwischen Panik und abschließenden schulterklopfenden Worten wie diesen ist doch ein weiter Weg. Aber vielleicht repräsentierte er nur den durchschnittlichen Österreicher, der in diesen Pandemiejahren zum allwissenden Infektiologen wurde. Acht Millionen Experten und Expertinnen. Das waren noch Zeiten, als wir nur Fußballtrainer waren.

Eines ist nach so viel Zeit zu Hause sicher: In den eigenen vier Wänden denkt man auch manchmal zu viel nach. Jeder Tag im Lockdown verläuft nach dem gleichen Muster ab, irgendwann verwechsle ich in der Erinnerung Lockdown 1, Lockdown 2, Lockdown 3 und Lockdown 4: zwei oder mehr Video-Calls, Planung, Hoffnung, dass es nicht ganz so schlimm und bald einmal vorbei sein würde. Ich hörte jeden Tag die Verbreitung von anekdotischem Wissen über die Pandemie, deren möglichen Auswirkungen und den fast unerfüllbaren Wunsch, das alles faktenbasiert nachzurecherchieren.

Mehr Ideen als Kraft

Ich hatte mehr Ideen für Hintergrundgeschichten als Kraft, sie in irgendeiner Form umzusetzen, und wurde derart beseelt vom Wunsch, die Leser und Leserinnen aufzuklären, unendlich müde. Konzentration, Fokussierung, Struktur – all das ging mir abhanden.

Mir fehlte die Distanz zur Arbeit, weil die Arbeit in meinem Wohnzimmer stattfand, mir fehlte die Nähe zu klugen Köpfen, um Gedanken zur Wissenschaft rund um Corona besser einzuordnen. In diesem Dazwischenzustand war ich nach Wochen schließlich vor allem eines: erschöpft.

Man hatte mir mein Normal gestohlen. Aber nahm ich mich nicht zu wichtig? Kinder, die wochenlang zu Hause Homeschooling machen mussten, Eltern, in der Realität wohl meistens Mütter, die diese Doppelbelastung von Beruf und Kontrolle des schulischen Fortschritts zu stemmen hatten. Spitalpersonal, das um das Leben von Corona-Kranken kämpfte.

So fühlt sich wohl der Lockdown-Blues an. Optische Abwechslung war Mangelware. Manchmal ging ich in den Hof und läutete bei meiner Frau an, Wiesenblumen in der Hand: Hier ist der Botendienst von Fleurop, ich hätte da eine Lieferung!

Was bringt die Zukunft?

November 2021. Ich bin mittlerweile geboostert. Wieder so eine Pandemie-Wortschöpfung: Wenn die Kraft für Erklärungen ausgeht, braucht die Gesellschaft formelhafte Wörter, die alles sagen. Es gibt viele Impfverweigerer, manche fürchten sich aufgrund fehlender Informationen, manche kommen mit Schauermärchen über Nebenwirkungen.

Nennen die seit 20, 25 Jahren erforschte mRNA-Technologie "Genzeug", weigern sich, wissen aber auch nicht, warum sie sich weigern. Sie schwafeln von Diktatur, wenn sie sich an Corona-Maßnahmen halten müssen, ignorieren aber, dass sie in einer Diktatur genau das nicht sagen dürften.

Ein Taxifahrer sagt, die Impfung werde eine Prüfung Gottes sein. Muss das sein? Ich mag mir so einen Unsinn nicht mehr anhören müssen. Ich höre so oft, dass man die Meinung, sich nicht impfen lassen zu wollen, respektieren müsse. Das sei die Freiheit der Impfskeptiker oder Impfverweigerer.

Doch die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo der Nächste damit Probleme bekommen könnte. Wer denkt an meine Freiheit, mein Recht, trotz Diabetes auch in einer Pandemie ein normales Leben führen zu können? Wer denkt an die vielen Kranken, deren Operationen bei starker Belegung der Intensivstationen verschoben werden müssen?

Ein tröstlicher Satz

Die Impfpflicht wird verkündet. "Anti vaxxer" planen einen Warnstreik dagegen. Ein Mann betreibt am Bahnhof Werbung dafür, eine Frau antwortet: "Ich kann nicht streiken, weil ich Krankenschwester bin. Sonst verrecken die Leute!" Irgendjemand schreibt auf Twitter, die Menschheit sei in einer Zeitschleife gefangen, als Omikron erstmals auftaucht. Aber es sind gerade zwei Jahren Pandemie, es fühlt sich aber nach deutlich mehr an. Die Ewigkeit ist auch nicht mehr das, was sie einmal war.

Inmitten der ersten panischen Meldungen über Omikron sagt mir ein Freund, dass er nichtoperablen Lungenkrebs hat. Er ist auch Diabetiker, Typ 1. Und er kommentiert das mit dem Satz: "Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei." Mir läuft die Gänsehaut über den Rücken, meine Probleme werden ganz klein. Ich denke in den kommenden Tagen viel über das Sterben nach.

Wie konnte das passieren? Achselzucken. "Ich rauche halt schon 50 Jahre", sagt der krebskranke Freund. Welch lapidare Antwort auf die alles entscheidende Frage nach dem gesunden Altwerden, dem erfolgreichen Hinauszögern des endgültigen Verfalls.

Was wird die Zukunft bringen? Das fragen sich wohl alle, die sich kaum noch an die Vor-Corona-Zeit erinnern können – nicht nur der Krebspatient. Aus heutiger Sicht kann man das natürlich nicht sagen. Wie lange das noch dauert? Auch das kann man nicht sagen. Omikron scheint aber wieder abzuflauen. Die Hoffnung, dass die Pandemie bald vorbei ist, wächst wieder. Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei. Irgendwie ist dieser Satz tröstlich. (Peter Illetschko, ALBUM, 19.2.2022)