Kunst oder Cancel-Culture? Das Künstler*innenkollektiv Schandwache hat den beschmierten Sockel des Lueger-Denkmals nachgegossen und stellt ihn nun selbst auf den Sockel.

Foto: Christoph Panzer

Am Dienstagabend postete der Wiener Filmemacher Thomas Draschan auf seinem Facebook-Account einen handgekritzelten Vorschlag für die Umgestaltung des Lueger-Denkmals: "Hier stand einst das Denkmal Dr. Karl Luegers, des Gründers des antisemitischen, populistischen Flügels der Vorläuferpartei der Wiener ÖVP." Das provokante Posting sorgte für eine stundenlange Diskussion zu einem kulturpolitischen Dauerbrenner: Was soll mit dem graffitibeschmierten Monument am Stubentor denn nun endlich passieren?

Vorschläge, Wettbewerbe und ganze Fachsymposien zu diesem Thema gab es in den vergangenen Jahren schon viele. 2010 schlug Klemens Wihlidal, der sich mit seiner Idee gegen 220 Mitbewerber durchsetzen konnte, vor, die Statue samt Hauptsockel um 3,5 Grad nach rechts zu kippen. Die Schieflage veranschauliche die Unsicherheit der Stadt im Umgang mit ihrem einstigen antisemitischen Bürgermeister, argumentierte Wihlidal damals. Passiert ist nichts.

Wichtige Spuren

Mit dem knallroten Graffitischriftzug "Schande", der im Juli 2020 großflächig auf den Sockel gesprüht worden war, daneben weitere Schandworte in Gelb, in Grün, in Gold, wurde die Diskussion wieder beschleunigt. Jetzt rollt der Stein: Im November kündigte Stadträtin Veronica Kaup-Hasler eine Ausschreibung für die Neugestaltung des umstrittenen Monuments an. Die Umsetzung ist für 2023 geplant.

"Ich fürchte, dass die Graffitis wieder verschwinden könnten und man die Problematik Luegers auf andere Weise kontextualisieren wird, und das halte ich für einen Fehler", sagt Vincent Weisl. "In der Architektur ist es gang und gäbe, denkmalgeschützte Bauwerke und Gebäudeensembles weiterzudenken und weiterzubauen – warum also nicht auch in der Kunst? Gerade an diesem Beispiel zeigt sich, dass der Umgang mit der Geschichte und die Reaktionen darauf mehr künstlerischen und gesellschaftspolitischen Aussagewert haben als die Skulptur selbst."

Genau diesem Verschwinden wichtiger Spuren aus dem Stadtraum widmet sich aktuell die kleine, verkopfte, aber raffiniert zusammengebrainte Ausstellung Gegen den Strich in der Musa-Startgalerie neben dem Rathaus. Weisl, seines Zeichens Kunsthistoriker und zurzeit Fellow am Wien-Museum, kuratierte die Schau und lud ein Dutzend Künstlerinnen und Künstler ein, Vorschläge zu erarbeiten, wie mit dem heute noch präsenten, im Stadtraum sichtbaren nationalsozialistischen Kulturerbe umzugehen sei. Gedacht sind die Projekte nicht zuletzt als Ergänzung und quasi zeitgenössische Fortführung der Ausstellung Auf Linie. NS-Kunstpolitik in Wien, die nebenan in der großen Musa-Halle zu sehen ist.

Nachbau

Damit die rote "Schande" nicht aus dem kollektiven Gedächtnis Wiens gelöscht wird, hat das Künstler*innenkollektiv Schandwache, das im Oktober 2020 vor dem Lueger-Denkmal gewacht hatte, um eine von der Stadtverwaltung initiierte Reinigungsaktion zu verhindern, den Schriftzug nun selbst zum eigentlichen Kunstwerk ernannt. In der Ausstellung ist ein Nachbau des Steinsockels zu sehen, der 3D-gescannt, gegossen und in Anlehnung an das Original nachgesprayt wurde.

"Jetzt steht der nachgebildete Sockel im Maßstab 1:1 nun selbst auf einem Sockel", sagt der Kurator. "Und man fragt sich: Worin also liegt das eigentlich Schützenswerte?" In der aktuellen Diskussion rund um das Lueger-Denkmal verschwimmen die Grenzen zwischen Kommentar und Vandalismus, zwischen Original und Intervention, zwischen Auseinandersetzung und wegpolierter Cancel-Culture.

Und das trifft auch auf viele andere Orte im Stadtraum zu. Josepha Edbauer beispielsweise beschäftigt sich mit der einstigen Arisierung von Wiener Immobilien – und macht in ihrer Arbeit Interface sichtbar, wie die Geschichte der Gebäude im historisch-immobilienwirtschaftlichen Interessenkonflikt in den meisten Fällen buchstäblich überdeckt wird.

Aus Fehlern und Versäumnissen lernen

Zu sehen ist eine bedruckte Baustellenplane, die während der Sanierungsarbeiten 2019/2020 vor einem großen Palais in der Wiener Innenstadt hing. Der charakteristische Stuck lässt einige Vermutungen zu, um welches Objekt es sich dabei handeln könnte. Allein, die Adresse des sanierten Hauses muss geheim gehalten werden, so wollte es der Liegenschaftseigentümer.

"In vielen Fällen scheitert die Sichtbarmachung und Aufarbeitung einer nationalsozialistischen Vergangenheit im Stadtraum genau daran", meint Weisl. "An den Interessen der privaten Eigentümer." So wie etwa auch im Fall des secessionistischen Palais des Beaux Arts in der Löwengasse. Einst war dies die Adresse des jüdischen Mode- und Verlagshauses Bachwitz. 1938 wurde das international erfolgreiche Unternehmen geschlossen, das Haus arisiert.

Um die Geschichte des Ortes sichtbar zu machen, entwickelte das gleichnamige Kollektiv Palais des Beaux Arts Wien eine Online-Ausstellung, die man – mit einem eigenen Router und WLAN-Netz in die Luft verschickt – direkt vor dem Haus virtuell besuchen kann. Die Besucherzahlen halten sich in Grenzen. Am Gebäude selbst darf keine Infotafel angebracht werden. Es scheitert an der Genehmigung.

Gegen den Strich ist die Einladung, aus Fehlern und Versäumnissen zu lernen und die Spuren im Stadtraum nicht wie bislang auszuradieren. Nicht bei Lueger und auch nicht bei den vielen nationalsozialistischen Sgraffiti und Mosaikarbeiten auf Wiens Fassaden. (Wojciech Czaja, 20.2.2022)