Als Ingomar Gutmann am Mittwoch die Pressekonferenz der Bundesregierung zu den Lockerungen verfolgte, kamen ihm die Tränen. Der Physiker an der Uni Wien wollte zu Hause gerade an einem wissenschaftlichen Paper weiterarbeiten, konnte sich aber nicht mehr konzentrieren.

"Ich dachte nur, wie komme ich jetzt mit dem klar, was da passiert. Alle Pläne und die Hoffnung auf ein halbwegs normales Leben sind wieder zerbrochen." Als er das dem STANDARD am nächsten Tag erzählt, hängt Gutmann gerade, wie alle zwei Wochen, an einer Infusion in einer immunologischen Tagesklinik in Wien.

Der 37-Jährige hat einen angeborenen Immundefekt. Er ist fünfmal geimpft, doch die Impfantwort war stets schwach. Corona wäre für ihn lebensbedrohlich. Wenn Gutmann nicht gerade am Schlauch hängt und Immunglobuline bekommt, würde man ihm nicht ansehen, dass er zur Gruppe der Vulnerablen gehört. Zu einer Gruppe, die auch abseits der Pflege- und Altersheime groß ist.

Gutmann führt ansonsten ein normales Leben, er arbeitet und erzieht seine sechsjährige Tochter, die abwechselnd bei Vater und Mutter wohnt. Seit Corona ist Letzteres sowie auch ihr Schulbesuch viel komplizierter geworden.

Lebensnotwendige Tests

Hochfrequente PCR-Tests halfen bisher, ein halbwegs sicheres Setting für den Vater zu schaffen. Auch dass die Tochter in der Schule stets eine Maske trug. Nun sollen Tests – so hieß es von Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein (Grüne) zuletzt – auch für alle Geboosterten kostenpflichtig werden.

Finanziell eine Katastrophe für viele Vulnerable und ihre Angehörigen. "Ich habe jegliches Vertrauen in die Politik verloren", sagt Gutmann, "auf Vorerkrankte wird einfach nicht geachtet." Der Physiker zählt sich selbst zu den "Schattenfamilien", so nennen sich jene mit vulnerablen Familienmitgliedern in Deutschland und Österreich, die seit zwei Jahren um ihre Sicherheit bangen.

Als DER STANDARD diese Woche Schattenfamilien thematisierte, war die Reaktion von Betroffenen überwältigend. Sie sehen sich seit zwei Jahren "ungehört, unsichtbar und angefeindet", so Betroffene. Viele wollten ihren Namen nicht in der Zeitung lesen. Aus Angst vor Hassnachrichten.

Langes Schweigen

Das lange Schweigen hat Gründe, meint die Wiener Patientenanwältin Sigrid Pilz. Stichwort sichere Schulen. "Es ist inakzeptabel, was da von Beginn an für ein Gegensatzpaar hergestellt wurde", kritisiert Pilz. "Wer sichere Schulen einforderte, damit Kinder und ihre Familien nicht durchseucht werden, wurde öffentlich als Gegner von Bildung und Kinderschutz verunglimpft. Normalbetrieb herrscht dort aber bis heute nicht." Pilz erinnert daran, dass "es auch Kinder gibt, die depressiv werden, weil sie große Angst haben, sich oder jemanden in der Familie zu gefährden".

"Es ist inakzeptabel, was da von Beginn an für ein Gegensatzpaar hergestellt wurde", kritisiert die Wiener Patientenanwältin Sigrid Pilz.
Foto: Robert Newald

Statt Lösungen zu suchen, seien vielerorts Lernpakete und Distance-Learning abgeschafft worden. Wichtig sei das Framing, so Pilz: "Statt zu sagen, die Pandemie ist gemeistert, braucht es eine Direktive vom Bildungsministerium bis in die Schuldirektionen, die heißt: Wir passen auf unsere Kinder auf."

Auch Sabine (Name von der Redaktion geändert, Anm.) hat Angst. Ihre heute dreijährige Tochter kam zu früh zur Welt, benötigt Physiotherapie, Ergotherapie und Logopädie. Mutter und Kind haben zudem beide einen genetischen Defekt, ihre Grunderkrankung könnte sich durch eine Infektion verschlimmern. Sonst ist sie ein Kind wie jedes andere.

Schwangere

Nachbarn haben die Eltern beim Jugendamt angezeigt, als diese eine Off-label-Impfung der Tochter laut überlegt hatten. Obwohl das Jugendamt keine Gefahr sah, sind die Eltern nun leise geworden – und warten mit der Impfung. "Wir haben einen Kindergartenplatz und zahlen den auch brav, haben dort aber nie angefangen, weil es Cluster über Cluster gab", sagt die Biologin. Auch sie war nach der Entscheidung am Mittwoch "einfach nur fassungslos: Es braucht eine Art von Sonderbetreuung für Kinder wie unseres oder Sonderkarenz für Eltern."

Auch auf eine weitere Gruppe wird in der Diskussion um Vulnerable oft vergessen. Familien, die Nachwuchs erwarten. "Schwangere, die sich mit Sars-CoV-2 infizieren, haben ein deutlich höheres Risiko für einen schweren Verlauf", sagt Barbara Maier, Gynäkologin, Medizinethikerin und Leiterin der gynäkologisch-geburtshilflichen Abteilung der Klinik Ottakring.

"Schwangere, die sich mit Sars-CoV-2 infizieren, haben ein deutlich höheres Risiko für einen schweren Verlauf", sagt Barbara Maier, Gynäkologin, Medizinethikerin und Leiterin der gynäkologisch-geburtshilflichen Abteilung der Klinik Ottakring.
Foto: rezenter

"Nicht nur Schwangere mit Vorerkrankungen, Schwangerschaftsdiabetes oder Schwangerschaftshypertonie, sondern auch gesunde. Zudem haben viele dieser Frauen bereits Kinder, die von Kindergarten oder Schule eine Infektion mitbringen können." Die Frauen bekommen bei Infektionsgefahr vielleicht eine Freistellung im Beruf, können sich aber nicht von der Kinderbetreuung zurückziehen. Und ihre Partner können im Beruf infiziert werden, warnt Maier.

Die Lockerungen sieht sie kritisch. "Ich bin eine Verfechterin von allem, was schützt, und als Medizinethikerin der Überzeugung, dass jeder Einzelne von uns die Verpflichtung hat, andere zu schützen", betont Maier.

Hospitalisierte Kinder

In der Omikron-Welle müssen derzeit mehr Kinder im Spital behandelt werden als bei früheren Virusvarianten, bestätigt die Neonatologin Angelika Berger vom Wiener AKH. Einerseits, weil sich nun allgemein mehr Menschen angesteckt haben, andererseits sind aber auch weniger Kinder als Erwachsene geimpft, was den Unterschied zwischen den Generationen, seit es Impfungen gibt, vergrößerte.

Der Kinderinfektiologe Volker Strenger von der Med-Uni Graz führt ein Register über Hospitalisierungen von Kindern und Jugendlichen in ganz Österreich.
Foto: Marija Kanizaj

Der Kinderinfektiologe Volker Strenger von der Med-Uni Graz (nicht zu verwechseln mit dem Grazer Public-Health-Experten Martin Sprenger) führt ein Register über Hospitalisierungen von Kindern und Jugendlichen in ganz Österreich. Doch aktuelle Zahlen für Omikron fehlen. Von 1. März 2020 bin 30. November 2021 waren jedenfalls 1853 im Alter bis 19 Jahre in Österreich in stationärer Behandlung.

Mehr Sorgen mache man sich aber über jene, die mehrere Wochen nach der Infektion eine überschießende Immunreaktion (PIMS oder auch MIS-C) entwickeln, sind sich Strenger und Berger einig. Wie oft PIMS in der Omikron-Welle vorkommt, "wird man in den nächsten Wochen sehen", sagt Berger.

Wiener Kinderarzt warnt

"Ich beobachte einen massiven Anstieg der Covid-Fälle bei Säuglingen", sagt ein niedergelassener Wiener Kinderarzt, der aufgrund der aufgeheizten Stimmung durch Impfgegner anonym bleiben will. Er hat seit Juni des Vorjahres 2600 Stiche verabreicht, 75 Prozent davon an Kinder von sechs Monaten bis zwölf Jahren. Dass jene von fünf bis zwölf Jahren seit November 2021 nicht mehr Off-label sind, habe ihm Recht gegeben, sagt er dem STANDARD.

Eltern von Risikokindern oder solche, die selbst ein erhöhtes Risiko haben, rennen ihm sprichwörtlich die Türe ein. Bis März 2022 ist er schon jetzt komplett ausgebucht.

Und der Kinderarzt warnt vor PIMS und Long Covid. Ein achtjähriger Bub sei kürzlich, vier bis sechs Wochen nachdem er Covid mit einem leichten Verlauf hatte, mit MIS-C fast auf der Intensivstation gelandet, erzählt der Arzt, "auch aus Kinderdörfern bekommen wir Nachrichten über Kinder, die drei bis vier Wochen nach der Infektion am Boden liegen und nicht mehr selbstständig aufstehen können." Eine Impfung könne auch dieses Risiko massiv senken.

"Jetzt sind es die ganz Kleinen, auf die sich die Probleme fokussieren, sie und die Vulnerablen im Familienverband, muss man jetzt schützen", so der Kinderarzt. (Colette M. Schmidt, 19.2.2022)