Michael Ludwig zum Wiener System Alles gurgelt: "Wir haben in Wien eine Infrastruktur aufgebaut, die wir im Fall einer neuen Welle nicht auf Knopfdruck von einem auf den anderen Tag wiederherstellen könnten."

Foto: Christian Fischer

Vier Mal hat sich Michael Ludwig in dieser Woche auf Corona getestet; dabei ist Wiens Bürgermeister bereits drei Mal geimpft. Geht es nach der Bundesregierung, wird das ab April wohl nicht mehr möglich sein – zumindest nicht mehr kostenlos. Mit 31. März läuft die Finanzierung der Gratistests aus. In Wien hofft man, an dem System festhalten zu können.

STANDARD: Herr Bürgermeister, Sie sind bekannt für Ihre ruhige Art – seit Mittwoch wirken Sie hingegen ziemlich verärgert.

Ludwig: In Wien sind wir wie auch die Bundesregierung dafür, dass man Öffnungsschritte setzt. Es ist nur die Frage, ob die aktuelle Lage die Ankündigungen vom Mittwoch rechtfertigt oder ob es nicht sinnvoll wäre, hier vorsichtiger vorzugehen. Die Öffnungsschritte wurden an einem Tag verkündet, an dem es einen Höchststand an Neuinfektionen gegeben hat – und eine hohe Belegung der Normalstationen in den Spitälern. Ich will nicht Erwartungshaltungen schüren, die man nicht einhalten kann. Niemand kann derzeit sagen, ob eine weitere Welle kommt – im Herbst oder sogar noch vor dem Sommer.

STANDARD: Die Tourismusministerin erklärte zuletzt, Sie sollten beginnen, auf Expertinnen zu hören. Aus dem Gesundheitsministerium gab es Kritik am "wilden Testen", das Wien betreibe. Ist die Zeit des Waffenstillstands zwischen Bund und Wien vorbei?

Ludwig: Wir gehen in Wien weiter unseren ruhigen und konsequenten Weg der Sicherheit. Außerdem wollen wir durch unsere Maßnahmen gravierende Auswirkungen auf den Wirtschaftsstandort und den Arbeitsmarkt verhindern. Wozu haben die voreiligen Schritte des Bundes bisher geführt? Wir haben vier Lockdowns gehabt. Mein Ziel ist es, konsequentere Maßnahmen zu setzen, um schwerwiegende Eingriffe wie einen Lockdown zu verhindern. Eine sachlich orientierte Politik ist gerade in Pandemiezeiten besser, als sich schnellen Applaus abzuholen – und dann erst recht wieder Einschränkungen zu setzen.

STANDARD: Wer ist Ihrer Ansicht nach die treibende Kraft hinter den Lockerungen?

Ludwig: Der Schritt ist offensichtlich von der Bundesregierung so konzipiert und nach außen hin vertreten worden. Es dürfte also eine gemeinsame Linie von ÖVP und Grünen sein. Das Parlament hat im Zuge der Pandemie der Bundesregierung – insbesondere dem Gesundheitsminister – sehr viele Kompetenzen eingeräumt.

STANDARD: Manche vermuten, die breiten Öffnungen könnten ein Manöver sein, um von gewissen ÖVP-Skandalen abzulenken. Sie auch?

Ludwig: Ich stelle keine Vermutungen an. Ich bin mir aber nicht sicher, ob die Öffnungsschritte nicht schlussendlich zurückgenommen werden müssen. Expertinnen und Experten sind bekanntlich sehr skeptisch.

STANDARD: Halten Sie die Öffnungen für gefährlich?

Ludwig: Im internationalen Vergleich haben Länder, die schnell geöffnet haben, auch die unmittelbaren Auswirkungen gespürt. Etwa einen explosionsartigen Anstieg der Infiziertenzahlen. Wir sehen, dass die Belegszahlen in den Spitälern hoch sind – bei gleichzeitig hohen Ausfällen beim Personal aufgrund von Ansteckungen. In Österreich ist es so: Wenn in den anderen Bundesländern die Spitäler voll sind, gibt es immer noch Wien. Ist Wien voll, ist Schluss. Aber wir behandeln nicht nur Patientinnen und Patienten aus anderen Bundesländern, sondern wir testen sie auch.

STANDARD: Der Bund wird wohl bald nicht mehr für die Gratistests zahlen. Warum übernimmt nicht einfach die Stadt Wien die Kosten, wenn Ihnen das Testen so wichtig ist?

Ludwig: Für die Pandemiebekämpfung ist der Bund verantwortlich. Es ist ihm dafür auch sehr viel Budget zugeordnet worden. Der Bund schenkt uns ja nichts. Er hat uns aufgefordert, eine Teststrategie zu entwickeln. Wien hat das ernst genommen: Wir können mit dem System "Alles gurgelt" frühzeitig Infizierte aus den Infektionsketten herausnehmen, haben einen guten Überblick über die Entwicklung des Virus und seine Mutationen und können am Anfang einer Infektion Medikamente einsetzen, die schwere Verläufe reduzieren. Ohne Tests wird das schwierig.

STANDARD: Auch einige führende Expertinnen und Experten sprechen sich für eine Änderung der Teststrategie aus. Finden Sie wirklich, dass Tests für alle unbeschränkt gratis bleiben müssen?

Ludwig: Wir haben in Wien eine Infrastruktur aufgebaut, die wir im Fall einer neuen Welle nicht auf Knopfdruck von einem auf den anderen Tag wiederherstellen könnten. Da muss die Bundesregierung zeitgerecht ein Konzept vorlegen, wie das möglich sein soll. Was ich vom Bund bisher gehört habe, hat mich nicht überzeugt. Da man davon ausgeht, dass die bisherige Teststrategie Ende März beendet wird, ist nicht mehr viel Zeit. Man sollte den Menschen reinen Wein einschenken und ihnen sagen, was die Tests dann – je nach Anbieter – kosten werden.

STANDARD: In Wien gelten strengere Regeln als im Rest des Landes. Sorgen Sie sich nicht, als Bremser dazustehen, während der Bund Freiheiten bringt?

Ludwig: Eine konsequente Politik ist immer besser als eine Hü-hott-Politik, bei der alles erst auf- und dann wieder zugesperrt wird. Ich bin dafür, Maßnahmen zu setzen, die eine geringere Einschränkung bedeuten. Es ist zumutbar, dass man in bestimmten Bereichen eine Maske trägt. Das ist jedenfalls besser als ein Lockdown.

STANDARD: Wien ist in der Nachtgastronomie strenger als der Rest Österreichs, Ungeimpfte dürfen weiterhin nicht hinein. Sollen Ungeimpfte in der normalen Gastronomie auch nach dem 5. März noch Testnachweise erbringen müssen?

Ludwig: Überall dort, wo man keine Maske tragen kann – wie eben in der Gastronomie – halte ich eine 2G-Regelung für sinnvoll. Aber: Dass es auf der einen Seite eine Impfpflicht gibt und auf der anderen Seite Ungeimpfte mit Tests in die Gastronomie dürfen, wie es ab Samstag geplant ist außerhalb Wiens – das bringt man intellektuell doch nicht unter einen Hut. Was ist da der Plan der Bundesregierung? Das ist eine Linie, die viele Menschen irritiert.

STANDARD: Rechnen Sie denn eigentlich mit baldigen Neuwahlen?

Ludwig: Eine vorgezogene Nationalratswahl sehe ich derzeit nicht am Horizont auf uns zukommen.

STANDARD: Ist Pamela Rendi-Wagner die unumstößliche nächste Spitzenkandidatin der SPÖ?

Ludwig: Fragen Sie auch in anderen Parteien ständig nach, wer Spitzenkandidat wird? Ich gehe davon aus, dass sie für die SPÖ antritt. (Oona Kroisleitner, Katharina Mittelstaedt, 18.2.2022)