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Ein ukrainischer Soldat in der Stadt Krymsk im Osten das Landes zeigt in die Richtung, aus der vermutlich jenes Geschoß kam, das das Gebäude hinter ihm traf.

Foto: AP / Vadim Ghirda

US-Außenminister Antony Blinken warf Russland vor dem UN-Sicherheitsrat vor, eine Provokation für eine mögliche Invasion zu planen. Als mögliche Rechtfertigung nannte er einen vermeintlichen Terroranschlag in Russland, die "erfundene Entdeckung eines Massengrabes" und Vorwürfe eines Völkermords, daneben auch noch einen inszenierten Drohnenangriff auf Zivilisten oder einen vorgetäuschten oder echten Angriff mit Chemiewaffen. Wie genau könnte das ablaufen?

1. Verschärfung im Donbass

Tatsächlich wäre wohl eine Eskalation im Donbass der wahrscheinlichste Auslöser einer Invasion. Russland betrachte die Entwicklung dort mit Sorge, erklärte Kremlsprecher Dmitri Peskow. Der Westen moniere zwar die anhaltende russische Truppenpräsenz im Grenzbereich, ignoriere dabei aber völlig das gewaltige Angriffspotenzial der ukrainischen Streitkräfte, das in unmittelbarer Nähe der Frontlinie konzentriert sei, klagte er.

"Zusammen mit den provokativen Handlungen, die sich in den letzten 24 Stunden oder auch den letzten Tagen nur noch verstärkt haben, ist das eine sehr, sehr gefährliche Situation", warnte Peskow. Ein "neues Aufflammen des Kriegs" im Donbass sei "jederzeit" möglich, so der Kremlsprecher.

Die Ansage ist deutlich: Eine Eskalation im Donbass, eine tatsächliche oder angebliche Offensive der ukrainischen Armee wäre für den Kreml eine Begründung, um einzugreifen. Seit Jahren präsentiert sich Moskau schließlich als Schutzmacht der russischsprachigen Minderheit in der Ukraine. Nicht nur werden die separatistischen Regime in Donezk und Luhansk von Moskau aus gelenkt und finanziert. Russland hat auch laut dem Duma-Abgeordneten Wiktor Wolodazki inzwischen 860.000 russische Pässe an die Bewohner der "Donezker Volksrepublik" (DVR) und "Luhansker Volksrepublik" (LVR) verteilt.

Die Rechtfertigung eines Eingreifens wäre in dem Fall der Schutz eigener Staatsbürger. Dass die extensive Passvergabe gegen das Minsker Abkommen verstoße, bestreitet der Kreml. Dies geschehe aus rein humanistischen Gründen, sagte Peskow jüngst.

Dass die akute Gefahr einer Eskalation besteht, bestätigt auch die Gegenseite. Der ukrainische Verteidigungsminister Olexij Resnikow teilte am Freitag mit, dass es in den letzten 24 Stunden rund 60 Feuergefechte gegeben habe, während es in Ruhezeiten durchschnittlich nur zwischen zwei und fünf Schießereien täglich gegeben habe. Auch die OSZE bestätigte eine Zunahme der Schusswechsel.

"Das ist die traditionelle Taktik der russischen Seite", erklärte Resnikow. Vor irgendwelchen wichtigen internationalen Treffen oder Ereignissen nehme die militärische Aktivität in der Region stets zu, "um so einen Background zu schaffen, den die russische Seite für vorteilhaft hält", sagte er.

2. Kriegsverbrechen

Ein zweiter Vorwand für einen Einmarsch könnte durch die "plötzliche" Aufdeckung von Kriegsverbrechen gegeben sein. Das Ermittlungskomitee, Russlands Pendant zum FBI, hat jüngst ein Strafverfahren wegen des grausamen Umgangs mit der Zivilbevölkerung und verbotener Arten der Kriegsführung eingeleitet. Hintergrund ist die Öffnung von fünf Massengräbern aus dem Jahr 2014. Damals seien Anwohner durch "ungezielten Beschuss ukrainischer Militäreinheiten" getötet worden. Laut Ermittlungskomitee wurden 295 Leichen geborgen. Erneut könnten in dem Fall der Schutz der Zivilbevölkerung und die Bestrafung der Schuldigen als moralische Rechtfertigung für ein Eingreifen russischer Truppen geltend gemacht werden. Moskau könnte sich darauf berufen, dass die neuesten Erkenntnisse den Anspruch der "Militärjunta in Kiew" auf den Donbass desavouieren.

Der Wahrheitsgehalt solcher Verlautbarungen ist allerdings mit einer gehörigen Portion Skepsis zu betrachten, da viele Horrormeldungen in den letzten Jahren einfach erfunden wurden, um Stimmung zu machen. Das bekannteste Beispiel ist die Fake-Meldung des russischen Staatsfernsehens über die Kreuzigung eines dreijährigen Buben, der 2014 angeblich von Ukrainern nach der Eroberung von Slawjansk ermordet wurde.

3. Anschlag in Russland

Darüber hinaus könnte auch ein – echter oder fingierter – Terroranschlag in Russland zum Zündfunken einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Moskau und Kiew werden. In den vergangenen Wochen und Monaten hatte der russische Geheimdienst mehrfach die Verhaftung ukrainischer Spione und Saboteure vermeldet, sowohl in Kernrussland als auch auf der von Russland seit 2014 annektierten Krim.

Im Dezember etwa berichtete der FSB über die Verhaftung von mehr als 100 ukrainischen Neonazis der Gruppe MKU, die angeblich Terroranschläge und Massenmorde vorbereitet haben sollen. Chef der Gruppierung ist Jegor Krasnow, ein Neonazi, der laut Pressemitteilung des FSB "unter dem Schutz des ukrainischen Geheimdienstes handelt".

Terroranschläge waren in der Vergangenheit schon mehrfach Auslöser von Kriegen. Russland betreffend dienten die Terroranschläge auf Wohnhäuser in Moskau 1999 als Anlass für den Zweiten Tschetschenienkrieg.

4. Chemie- oder Drohnenangriff

Drohnenattacken hat es tatsächlich zuletzt vermehrt gegeben. Die ukrainischen Streitkräfte haben aus dem Konflikt um Bergkarabach zwischen Armenien und Aserbaidschan ihre Schlussfolgerungen gezogen und dutzende türkische Bayraktar-Drohnen bestellt. Seit Herbst kommen sie immer wieder zum Einsatz und sollen auch der Einnahme der Ortschaft Staromarjewka in der Grauzone Vorschub geleistet haben, über die Kiew im Oktober wieder die Kontrolle erlangte.

Chemiewaffen hingegen besitzt die Ukraine offiziell nicht. Russlands Verteidigungsminister Sergej Schoigu behauptete aber, dass die USA mithilfe von Söldnertruppen "Reservoirs mit unbekannten chemischen Komponenten" in den Donbass verschifft haben. Dies könne zu Provokationen in den Städten Awdijewka oder Krasny Liman verwendet werden, meinte er. Er nannte in dem Zusammenhang die Chemikalie Botulinumtoxin.

Sein Pendant in der DVR, Eduard Bassurin, erklärte im russischen Fernsehen, dass in Mariupol unweit der Frontlinie Behälter mit Dibenzoxazepin aufgetaucht seien. Die Chemikalie wird als Tränengas verwendet. In jedem Fall würde ein Anschlag mit solchen Waffen einen Aufschrei in Russland auslösen und innenpolitisch die Voraussetzungen für eine Offensive der russischen Streitkräfte schaffen. (André Ballin aus Moskau, 20.2.2022)