Putin schickt ungeachtet der Warnungen des Westens Soldaten in die Ostukraine.

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Am Montagabend ist der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine massiv eskaliert: Der russische Präsident Wladimir Putin ordnete die Entsendung von Truppen in die Ostukraine an. Die Einheiten sollen in den von Moskau nun als unabhängige Staaten anerkannten "Volksrepubliken Luhansk und Donezk" für Frieden sorgen, wie aus einem Dekret vom Montag hervorgeht. Demnach darf Russland dort auch Militärbasen eröffnen.

Wann die sogenannten "Friedenstruppen" in die von prorussischen Separatisten kontrollierten Gebiete einrücken, blieb zunächst unklar.

Zuvor hatte Putin in einer rund 45-minütigen TV-Rede erklärt, dass Russland die beiden abtrünnigen ukrainischen Provinzen als unabhängige "Volksrepubliken" anerkennen werde. Das russische Staatsfernsehen zeigte im Anschluss, wie der Kreml-Chef ein Dekret zur Anerkennung der selbsternannten Republiken in der Ostukraine unterzeichnete.

Russland erklärte damit zum ersten Mal, dass es das Donbass-Gebiet nicht als Teil der Ukraine betrachtet. Bisher hatte Russland bestritten, in den Konflikt um das Gebiet in der Ostukraine involviert zu sein und eine Invasion zu planen. Das Dekret ebnet insofern den Weg für die Entsendung von russischen Truppen in die Separatistengebiete, als es Russland die Begründung liefert, die dortigen Führungen als Verbündete gegen die Ukraine zu unterstützten.

Westen kündigt Strafmaßnahmen an

Unmittelbar nach Putins Rede leitete der Westen Schritte für erste Sanktionen ein: US-Präsident Joe Biden will ein Dekret unterzeichnen, das Geschäfte in oder mit den beiden von Russland anerkannten Separatistenregionen verbietet. Die britische Außenministerin Liz Truss kündigte für Dienstag Sanktionen gegen Russland an. Die EU-Staaten verständigten sich dem niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte zufolge auf ein begrenztes Sanktionspaket: "Ziel sind jene, die für diese Entscheidung verantwortlich sind", sagte Rutte. Entscheidungen zu Details der Maßnahmen würden vermutlich am Dienstag getroffen.

Die Anerkennung der beiden Gebiete in der Ukraine sei ein eklatanter Verstoß gegen das Völkerrecht, die territoriale Integrität der Ukraine und die Vereinbarungen von Minsk, schrieben EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident Charles Michel. Auch der britische Premier Boris Johnson verurteilte den Schritt als offenen Bruch internationalen Rechts und sprach von einer "schamlosen Verletzung der Souveränität und Integrität der Ukraine". Deutschland rief Putin dazu auf, seine Entscheidung zu revidieren. Biden sprach von einer "raschen und entschlossenen" Reaktion auf weitere Aggressionen Russlands. Polen und die baltischen Staaten forderten sofortige Sanktionen. Die USA, Großbritannien, Frankreich, Albanien, Norwegen und Irland beantragten noch am Montag eine Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrats. Für UN-Generalsekretär António Guterres verstößt Russland gegen die Charta der Vereinten Nationen.

Türkis-Grün kritisiert Putin

Auch die türkis-grüne Regierung verurteilte Putins Vorgehen. "Es ist leider eingetreten, was wir seit Tagen befürchtet und wovor wir gewarnt haben", schrieb Kanzler Karl Nehammer. Aufgrund der Lage habe er für Dienstag erneut das Krisenkabinett einberufen. Die Regierung stehe in enger Absprache mit den europäischen Partnern, um die weitere Vorgehensweise zu besprechen. "Dieser Schritt des russischen Präsidenten ist ein herber Rückschlag für die Hoffnungen auf Frieden in Europa und ein offener Schlag ins Gesicht der Diplomatie", sagte die außenpolitische Sprecherin der Grünen, Ewa Ernst-Dziedzic.

Westliche Vertreter hatten Russland mehrfach vor diesem Bruch des Minsker Abkommens gewarnt und Sanktionen angedroht. Immer wieder wurde betont, dass die territoriale Integrität der Ukraine bewahrt werden müsse. Grund zur Sorge vor einer russischen Invasion lieferte seit Wochen die Truppenansammlung an der ukrainischen Grenze: Russland hat dort nach westlichen Angaben etwa 150.000 Soldaten zusammengezogen.

Putin stellt Staatlichkeit der Ukraine als Ganzes infrage

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sah in Putins TV-Rede den Versuch, einen Vorwand für eine Invasion zu konstruieren. Der Kreml-Chef hatte darin unter anderem erklärt, der Osten der Ukraine sei altes russisches Gebiet. Zudem sei die Ukraine integraler Teil der russischen Geschichte, und die moderne Ukraine sei vom kommunistischen Russland erschaffen worden. Putin warf der ukrainischen Führung unter anderem vor, von Russland immer nur die für sie vorteilhaften Dinge gefordert zu haben, ohne dafür im Gegenzug Verpflichtungen eingegangen zu sein. Außerdem habe die Ukraine in der Vergangenheit russisches Gas gestohlen und die Energiefrage benutzt, um Russland zu erpressen. Die ukrainischen Behörden seien verseucht mit einem Virus aus Nationalismus und Korruption. Überhaupt werde die Ukraine von ausländischen Kräften gelenkt. Das Land sei eine US-Kolonie mit einem Marionettenregime.

Russland könne nicht ignorieren, dass die Ukraine den Aufbau eigener Atomwaffen plane, erklärte Putin und kritisierte zudem die Nato: Diese habe Russland versprochen, nicht zu expandieren. Das Gegenteil sei aber der Fall gewesen. Ein Beitritt der Ukraine zur Nato sei eine direkte Bedrohung für Russlands Sicherheit. Es sei klar, dass eine weitere Expansion der Nato nur eine Frage der Zeit sei, wie auch weitere Sanktionen gegen Russland. Er gab sich zuversichtlich, dass die russische Bevölkerung seine Entscheidung unterstütze.

Das Konfliktgebiet Donbass.

Lage im Konfliktgebiet Donbass

In den ostukrainischen Provinzen Donezk und Luhansk im Konfliktgebiet Donbass kämpfen seit 2014 vom Westen ausgerüstete Regierungstruppen gegen von Russland unterstützte Separatisten. In den vergangenen Tagen hat sich die Lage zugespitzt: Internationale Beobachter berichteten zuletzt von einer massiven Zunahme von Verstößen gegen den Waffenstillstand.

Zuletzt wurden bei einem Angriff prorussischer Milizen auf ein Dorf an der Frontlinie nach Angaben der ukrainischen Polizei zwei Soldaten getötet. Drei weitere ukrainische Soldaten seien verletzt worden, teilte die Polizei am Montag mit. Demnach ereignete sich der Angriff in der Nähe des nördlich von Donezk gelegenen Dorfes Nowoluhansk, in dem zuvor nach Angaben des örtlichen Gouverneurs bereits ein Zivilist durch Beschuss prorussischer Rebellen getötet worden war. Auch die Aufständischen hatten am Montag von mindestens zwei Toten und neuen Gefechten gesprochen.

Die Ukraine hat immer wieder betont, keine Offensive gegen die Separatisten zu planen. In Donezk sprach Separatistenführer Denis Puschilin wiederum von massivem Beschuss von ukrainischer Seite und rief alle Männer zu den Waffen, um gegen ukrainische Regierungstruppen zu kämpfen. Überprüfbar waren diese Angaben nicht, auch nicht Berichte über spontane Feuerwerke nach der staatlichen Anerkennung durch Russland. Unter den Klängen der russischen Nationalhymne skandierten sie auf Videos "Russland, Russland".

Zuvor gab es widersprüchliche Angaben über angebliche Saboteure auf russischem Boden. Die russische Armee tötete nach eigenen Angaben fünf aus der Ukraine kommende "Saboteure". Zudem hätten bei dem Vorfall in der Früh in der Region von Rostow zwei ukrainische Militärfahrzeuge versucht, die Grenze zu überqueren. Die Ukraine dementierte die Darstellung. Es handle sich um Fake News, Ukrainer seien nicht in Rostow präsent. "Kein einziger unserer Soldaten hat die Grenze zur Russischen Föderation überquert, und kein einziger ist heute getötet worden", erklärte das ukrainische Innenministerium.

Mögliches Gipfeltreffen

Vor der Eskalation waren zuletzt die diplomatischen Drähte wieder heißgelaufen. Am Sonntagabend hatte Frankreich darüber informiert, dass Biden und Putin einem von Präsident Emmanuel Macron vorgeschlagenen Gipfeltreffen grundsätzlich zugestimmt hätten. Dieses könne aber "nur stattfinden, wenn Russland nicht in die Ukraine einmarschiert", hieß es, nachdem Macron zuvor mit Biden und Putin telefoniert hatte. Am Montagabend war unklar, ob es überhaupt zu dem Treffen kommt. Der russische Außenminister Sergej Lawrow hatte zuvor lediglich ein Treffen mit seinem US-Amtskollegen Antony Blinken am Donnerstag in Genf bestätigt. Am Freitag sollte Lawrow dann nach Paris reisen.

In Brüssel fanden am Montag Beratungen der EU-Außenminister statt. Der als Gast angereiste ukrainische Außenminister Dmitro Kuleba bekräftigte dort die Forderungen seines Landes nach sofortigen Strafmaßnahmen. "Sanktionen sind eine Reaktion, wie eine Art Bestrafung, das kann und sollte man nicht im Vorfeld machen", hatte hingegen Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) erklärt. EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen hatte sich tagsüber ebenfalls dagegen ausgesprochen, die Sanktionen bereits jetzt zu verhängen. Sie unterstrich stattdessen die Drohung des Westens, dass Russland im Fall eines Angriffs auf die Ukraine "massive Konsequenzen" zu erwarten habe. (Flora Mory, Reuters, APA, 21.2.2022)