"Wow, wir kommen ja wirklich jede Woche ein Stück weiter!" S. war begeistert. Er kämpfte – das war offensichtlich. Aber er war glücklich. Und stolz. "So weit", presste er hervor, "bin ich noch nie gekommen." Dann legte er noch einen Zahn zu: Vorne, 200, vielleicht 300 Meter von uns entfernt, war seine Ziellinie. Dort warteten schon die anderen: Wenn S. es bis dorthin schaffen würde, hätte er die Schallmauer durchbrochen.

Die anderen, der Rest der Gruppe, sahen uns. Sie wussten, dass S. am Limit war. Dass er jetzt über eine Grenze ging. Und dass das für ihn jetzt und hier wichtig war: Sie feuerten ihn an – das wirkte.

S. fand noch ein ungenutztes Fuzerl Kraft in seinen Beinen. Legte alles in diese letzten 100 Meter. Und jubelte dann: "Yes! Geschafft!"

S. war jetzt der glücklichste Mensch der Welt:

Er war zum ersten Mal in seinem Leben sieben Kilometer gelaufen. Sieben Kilometer – ohne eine einzige Gehpause.

Foto: Tom Rottenberg

Wenn Sie jetzt grinsen oder sich irgendwie erhaben oder gar besser fühlen, bitte ich Sie, an dieser Stelle aus dieser Geschichte auszusteigen: Es mag schon sein, dass Sie nicht sieben, sondern 70 Kilometer am Stück rennen können. Vielleicht ja sogar schneller als S. seinen Siebener.

Ich gratuliere Ihnen herzlich – aber: Wie super Sie sind, ist hier und heute vollkommen egal. Nicht zuletzt, weil die Tatsache, dass Sie all das draufhaben, ziemlich sicher bedeutet, dass sie wohl schon recht lange laufen.

Dass sie nicht über Jahre oder Jahrzehnte, vermutlich seit der Schule oder dem Bundesheer wenig Sport gemacht haben. Dass sie nicht nach einem Bürotag auch den Rest des Tages noch sitzend verbringen – und dabei nicht nur zu viel, sondern ziemlich sicher auch noch das Falsche essen.

Foto: Tom Rottenberg

Und vor allem heißt das ziemlich sicher, dass für Sie selbstverständlich ist, was Menschen wie S. oft erst wieder in ihr Leben lassen müssen: die Freude daran, sich zu bewegen. Sich selbst zu spüren.

Ich versuche, Leuten wie S. dabei ein bisserl zu helfen. Und ich verrate Ihnen eines: Das ist eine richtig schöne Aufgabe. Denn wenn jemand wie S. zum ersten Mal seine oder ihre sieben Kilometer rennt, ist das was wert. Das ist eine Megaleistung – und die verdient Applaus. Ohne Wenn und Aber.

Außerdem bin ich dann auch selbst ein bisserl stolz, wenn S. oder sonst wem sowas gelingt. Weil ich dann vielleicht doch etwas richtig gemacht habe.

Aber freilich: Rennen muss S. immer noch selbst.

Foto: Steinacher

Ich laufe gern mit S. Und auch regelmäßig: einmal pro Woche. Meist ein bisserl mehr als eine Stunde. Und nicht nur mit ihm: S. arbeitet in einem Unternehmen, dessen Geschäftsführung seinen Mitarbeiter:innen ein regelmäßiges Lauftraining in der Gruppe spendiert.

Einmal in der Woche warten dann – je nach Jahreszeit, aktuellen Corona-Vorschriften und Wetter – zwischen fünf und 25 Nasen am Stadionparkplatz (oder einem anderen Treffpunkt).

Und nach einem kurzen Warm-up teilen wir uns dann in kleinere, offiziell nach Tempo, tatsächlich aber oft mehr nach persönlichen Plaudervorlieben eingeteilte Gruppen auf – und hirschen durch den Prater. Oder sonst ein Laufrevier.

Foto: Tom Rottenberg

S. selbst werden Sie auf den Fotos dieser Geschichte nicht finden. Es gibt ihn, aber er gehört zu einer anderen Firmenlaufgruppe als jener, deren Läufer:innen hier (natürlich mit Erlaubnis) zu sehen sind: ganz normale Menschen nämlich. Keine Modell- oder Eliteathleten – sondern Leute wie Sie und ich: Leute, die im Job, in der U-Bahn oder im Supermarkt neben oder hinter Ihnen stehen könnten.

Personen, deren Laufen aber genauso "wertig" ist wie das von irgendwelchen Ultra- oder sonst wie "extremen" Läufer:innen. Weil es nicht um den Vergleich, nicht um Zeiten oder Kilometer, sondern um Herzblut geht. Darum, zu tun, was glücklich macht.

Foto: Tom Rottenberg

Das gilt auch für S.: Seine "Schallmauer", den Siebener, hat er vergangenen Herbst durchbrochen. Aktuell peilt er den Zehner an. Ein dickes Brett für einen 55-Jährigen, der zwischen seinem 25. und seinem 53. Lebensjahr "höchstens einmal eine halbe Stunde spazieren gegangen ist" – aber S. ist optimistisch. Und ehrgeizig: Irgendwann, "vielleicht schon nächstes Jahr", will er dann auch über mehr "zumindest nachdenken können: Mein Traum wäre es, einmal im Leben einen Halbmarathon zu laufen."

Foto: Tom Rottenberg

Dass ich daran Teilschuld habe, macht mich stolz.

Nicht nur, wenn ich mit S. über sein Laufen und seine Freude daran rede, sondern auch, wenn ich mitbekomme, wie es anderen geht. Wenn ich bemerke, wie sie merken, dass sich durch das Laufen etwas verändert. Nicht nur sportlich, sondern in der Art, wie sie sich selbst wahrnehmen. Was sie sich zutrauen. Wieder zutrauen. Manchmal auch: sich erstmals zuzutrauen zugestehen. "Man hat mir immer gesagt, Sport sei nichts für mich, ich sei nicht talentiert." Das habe ich schon öfter gehört. Meist sagen es Leute, die erst als Erwachsene draufkommen, dass es nicht um Talent, sondern um Freude geht.

Foto: Tom Rottenberg

Ich treffe solche Leute meist, wenn sie über die Arbeit zum Sport finden. Oft geht das über Firmenlaufgruppen. Die sind ein guter "Schuhlöffel". Zumindest für Menschen, die sich durch die soziale Komponente motivieren lassen: Ob das nun "Gruppendruck" oder "Schönes wird schöner, wenn man es teilt" heißt, ist egal – wenn es um das Ergebnis "Bewegung" gehen soll.

Auch ob man Schwellenängste ("Die anderen können es ja auch nicht perfekt") abbaut oder sich mit Kolleg:innen ein bisserl matcht, ist dann egal: Gemeinsam an individuellen Skills zu arbeiten ist in vielen Fällen effizienter – aber auch freudvoller –, als alleine und unbetreut zu dilettieren. Oder es solo gar nicht zu versuchen.

Foto: Tom Rottenberg

Ob Unternehmen aus Altruismus oder mit Kalkül in den letzten Jahren immer öfter Mitarbeiter:innen betreuten Sport anbieten, ist für die, die dann dabei Spaß haben, sicher nicht die allererste Überlegung. Und eigentlich ja auch egal. Auch wenn unbestritten (aber eher schwer in Zahlen zu fassen) ist, dass sportlich aktivere Angestellte weniger anfällig für Wehwehchen und Krankheiten sind – und meist auch belastbarer, motivierter und loyaler.

Ganz abgesehen vom sozialen und zwischenmenschlichen Kitt, den gemeinsamer Sport bedeutet. So unwichtig ist die Stimmung in einem Unternehmen nämlich nicht.

Foto: Tom Rottenberg

Wobei gemeinsames Sporteln durchaus auch Konfliktpotenzial hat, weiß Harald Fritz: "Beim Sport gelten die im Unternehmen sonst unumstößlichen Hierarchien und Rangordnung nicht. Es geht nicht nur um Anrede, Kleidungsnormen und Umgangsformen untereinander: Nicht jeder Vorgesetzte kann damit umgehen, plötzlich deutlich schwächer zu sein als die sonst Untergebenen." Patentrezept, so mein Coach, gäbe es dafür keines, "es hängt stark von den Usancen und Strukturen ab, ob und wie das gelebt wird".

Foto: Tom Rottenberg

Dass mein Trainer – so wie viele in seiner Branche – immer öfter Firmen Beine macht, ist wenig überraschend: Dieser Markt ist in den letzten Jahren massiv gewachsen – und wächst weiter. Denn Gewinner gibt es da auf allen Seiten – nicht nur bei Trainern und Auftraggebern (siehe oben), sondern auch bei den Betreuten: Das Training ist für sie ja meist de facto gratis – auch wenn mitunter ein symbolischer Beitrag verrechnet wird. "Da geht es um Wertigkeit: Erfahrungsgemäß kommen die Leute zuverlässiger, wenn sie etwas bezahlen. Und wenn es nur zehn Euro für ein Semester sind."

Foto: Tom Rottenberg

Aber natürlich kommen nie alle immer – geschweige denn bis zum Ende eines Kursdurchlaufs. Nach ein paar Wochen weiß ich meist, wer dann, wenn zu Mittag Regenwolken über der Stadt aufziehen, plötzlich nach Büroschluss eine Schulung oder keine Kinderbetreuung hat.

Umgekehrt entwickeln sich aber andere Leute, zu echten "Die Hards", denen ich bei Hagel und Sturm nur mit Mühe das Laufen im Wald ausreden kann.

Eh super. Und auch für mich motivierend. Schließlich kann ich ja nur schwer sagen: "Rennt ihr nur, ich sitz’ einstweilen im Kaffeehaus."

Umgekehrt gab es das schon – allerdings bekam der "Schwänzer" von seinen Kolleg:innen dann verbal Beton. Erstaunlicherweise wirkte das nachhaltig: Der gute Mann fehlte von da an nie wieder.

Foto: Tom Rottenberg

Aber das Feine an solchen Gruppen ist, zu spüren, wie neben dem läuferischen Vermögen auch die Freude am Rennen sukzessive wächst.

Wie aus anfangs oft fast schüchternem "Glaubst du echt, ich kann das wirklich?" meist relativ rasch auch Neugierde und Mut wird: Der Glaube, dass man als "Normalo" nur auf Asphalt laufen darf (oder kann), ist weiter verbreitet, als man glauben mag.

Aber nur so lange, bis man so eine Gruppe dann das erste Mal ins "Gemüse" geführt hat: Gerade Menschen, die nicht so aufs Tempobolzen fixiert sind, entdecken da sehr rasch die Freude daran, über Stock und Stein zu laufen – und mitten in der Stadt Natur zu erleben. "Weißt du worauf ich mich am meisten freue? Wenn es hier bald wieder überall nach Bärlauch riecht."

Foto: Tom Rottenberg

Natürlich: Ein bisserl Gas geben gehört schon auch immer wieder dazu. Etwa beim "Kipchoge 100er". Den haben die Macher des VCM, des Vienna Citymarathons, im Oktober auf der Hauptallee markiert. Anlässlich des zweiten Jahrestages von Eliud Kipchoges Weltrekord über die Marathondistanz luden sie dazu ein, hier die "Kipchoge-Pace" zu spüren: Wer 42 Kilometer wie der Superstar in weniger als zwei Stunden laufen möchte, darf für 100 Meter gerade einmal 17 Sekunden brauchen.

Foto: Tom Rottenberg

Was Kipchoge 420 Mal ohne Pause schaffte, ist für viele Hobbyläufer schon ambitioniert – auch wenn sie es nur einmal hinkriegen wollen. Für Otto und Anna Durchschnitt sind 17 Sekunden oft nicht zu schaffen.

Trotzdem versuchen sie es gerne – und mit Begeisterung.

Womit wir wieder bei S. wären: Der hält hier derzeit bei 24 (handgestoppten) Sekunden – und ist darauf richtig stolz.

Ich mit ihm: Vor einem Jahre hätte er sich nämlich nicht getraut, es überhaupt zu probieren.

Foto: Tom Rottenberg

Epilog: Irgendwann, in einem anderen Leben, interviewte ich Reinhold Messner. Messner fragte zwischendurch, wie ich es mit den Bergen hielte. Die Frage, antwortete ich, sei reichlich bizarr: Er sei Reinhold Messner – welche Relevanz, welchen Wert hätten da meine banalen alpinen Erlebnisse?

Messner fuhr mir über den Mund. Derlei dürfe ich nicht einmal denken. "Extremsport", sagte er dann, "beginnt, wo du einen Schritt weiter gehst, als du es dir gestern selbst zugetraut hättest: Das ist die einzige relevante Benchmark."

Messner sprach nicht vom Laufen. Trotzdem erzähle ich diese Geschichte meinen Gruppen immer irgendwann.

Spätestens wenn wir auf der Hauptallee zum "Beat Eliud 100er" kommen – oder wenn einer zum ersten Mal sieben Kilometer ohne Gehpause schafft. (Tom Rottenberg, 22.2.2022)


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