Das Leben in Kiew nimmt – Stand Dienstag – vorerst seinen gewohnten Lauf.

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Als Ex-Komiker konnte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj auch angesichts der aktuell angespannten Umstände in seiner nächtlichen Ansprache an die Nation dem Drang zum Scherzen nicht komplett widerstehen. "Wir und unserer Staat haben schlicht keine Zeit für die langen Geschichtsstunden, deswegen würde ich vor allem über die Realitäten und über die Zukunft reden", betonte Selenskyj in Anspielung auf die lange Rede seines russischen Amtskollegen Wladimir Putin, die sich zum großen Teil seiner spezifischen Sichtweise auf die Geschichte der Ukraine widmete.

Dann jedoch wurde Selenskyjs Rede aber der Lage entsprechend ernst, auch wenn er betonte, dass es keine Gründe für schlaflose Nächte der Ukrainer gibt. Die Anerkennung der selbsternannen Volksrepubliken Donezk und Luhansk bedeute den Ausstieg Russlands aus den Minsker Friedensvereinbarungen vom Februar 2015 – die alleinige Verantwortung dafür liege bei Moskau. Während einer Pressekonferenz mit dem estnischen Präsidenten Alar Karis am Dienstag schloss Selenskyj auch den Abbruch der diplomatischen Beziehungen mit Russland nicht aus. Aus der Sicht von Selenskyj geht es bei dem Schritt des Kremls aber vor allem um die Legitimierung des Status quo, den es faktisch vor Ort seit 2014 gibt.

Kiew von Last befreit

Tatsächlich hat die Anerkennung der sogenannten Separatistenrepubliken für Kiew auch nicht offen ausgesprochene Vorteile. Nachdem Russland 2019 mit der Ausgabe der russischen Pässe an die Bevölkerung des besetzen Gebietes begann und zuletzt deren politische und wirtschaftliche Integration beschleunigte, war der von Minsk festgeschriebene Weg der Reintegration in den ukrainischen Staat etwa durch die Erteilung des weit angelegten Sonderstatus für die Ukraine nicht akzeptabel. Der Ausstieg Russlands aus dem Minsker Abkommen befreit Kiew von der Erfüllung der Verpflichtungen.

Was sich nun zum einen ändert, ist die offene Militärpräsenz der russischen Truppen, die vorher nur während der Zuspitzungen im August 2014 und Februar 2015 eingesetzt wurden. Zum anderen war lange unklar, wie Russland nun die Grenzen der selbsternannten Volksrepubliken, die sich selbst ursprünglich auf dem gesamten Gebiet der Bezirke Donezk und Luhansk proklamiert haben, faktisch aber etwa ein Drittel davon kontrollieren, definieren wird. In den Verträgen zwischen Moskau und den Separatisten scheint das nicht angesprochen zu sein, das russische Außenministerium spricht aber nun deutlich von den Grenzen, in denen die Separatistenführung ihre Befugnisse faktisch ausübt.

Mehrere Optionen

"Grundsätzlich gibt es aufgrund der russischen Truppeneinmarsches im besetzten Gebiet zwei Optionen. Einerseits gibt es das erhöhte Risiko des direkten Krieges zwischen der Ukraine und Russland zumindest im Donbass. Andererseits könnte es sich zum Einfrieren des Konflikts wie in Abchasien und Südossetien entwickeln", meint der ukrainische Politikwissenschafter Wolodymyr Fessenko, der dem Präsidenten Selenskyj nahesteht.

Sein Kollege Petro Oleschtschuk von der Kiewer Schewtschenko-Universität sieht dagegen bei der aktuellen Entwicklung die Informationspolitik der westlichen Staaten gefragt. "Das einzige reale Ergebnis der Hysterie über einen möglichen Angriff Putins auf Kiew ist, dass Russland die Aufnahme eines weiteren ukrainischen Territoriums in den eigenen militärisch-politischen Raum schaffte – und dabei schwerwiegende Folgen vermeidet, weil alle auf Putins Angriff warten, um diese umzusetzen." Für Fessenko ist aber vor allem Putins Ukraine-Rede ein schlechtes Zeichen: "Er ist besessen von Imperialismus und Anti-Ukrainismus. Es besteht großes Risiko, dass Putin im Donbass nicht aufhört."

Ruhe in Kiew

Auch auf den Straßen Kiews zeigt man sich ausgerechnet aufgrund der Inhalte der Putin-Rede besorgt. "Der ist doch komplett verrückt, oder? Wie kann man das denn überhaupt nennen?", erzählt Olena, eine junge Juristin, im historischen Bezirk Podil. "Wenn man sich seine Gedanken anhört, kriegt einer schon ein bisschen Angst." Die sozialen Netzwerke sind ebenfalls voll mit Putin-kritischen Postings und dem Appell, die Ukraine in Ruhe zu lassen. Sonst geht das Leben in der ukrainischen Hauptstadt weitgehend regulär seinen Lauf. Die Anerkennung der selbsternannten Volksrepubliken lag in den letzten Tage in der Luft und war für die Kiewer keine allzu überraschende Entwicklung. (Denis Trubetskoy aus Kiew, 22.2.2022)