Russische Panzerfahrzeuge stehen auf einer Straße in der russischen Region Rostow.

Foto: EPA/YURI KOCHETKOV

In der Nacht auf Dienstag ist also eingetreten, was manche in der Europäischen Union bis zuletzt nicht wahrhaben wollten. Der russische Präsident Wladimir Putin hat Teile seiner seit Monaten rund um die Ukraine aufgebauten Militärmacht in die Ostukraine geschickt. Als "Friedenstruppen" für die beiden Separatistengebiete Donezk und Luhansk, wie es in Moskau in einer grotesken Uminterpretation der Realität hieß.

Aber das Täuschen hat ein Ende. Russische Soldaten sind ganz offiziell in zwei Gebieten tätig, die gemäß dem Minsker Abkommen von 2015 entmilitarisiert werden müssten, statt von einer fremden Macht aus Russland besetzt zu werden. Am Abend zuvor hatte der Kreml-Herr in einer bizarr anmutenden Inszenierung Luhansk und Donezk als "Republiken" anerkannt, sich so einen seiner Meinung nach legitimen Vorwand zur Intervention geschaffen.

Das Vorgehen Putins ist ein klarer Bruch des Völkerrechts, ein kriegerischer Akt gegen die unabhängige Ukraine, die ein souveräner Staat ist. Der russische Präsident mag noch so oft das quasi historische Anrecht auf die Ukraine als "seinen Herrschaftsbereich" beanspruchen. Die Rechtslage ist eindeutig. Putin stellt die internationale Ordnung ganz gezielt und bewusst infrage. Er ist kein Friedensstifter, wie er seine Propaganda behaupten lässt, er wurde und wird vom Westen auch nicht "bedroht" – Putin ist ein Kriegsbringer.

Unmittelbare Sanktionen

Dementsprechend klar und schnell kamen Montagabend auch die Erklärungen der EU-Kommission, der Regierungen der gewichtigsten EU-Staaten und aus Washington. Sie verurteilten übereinstimmend diesen "eklatanten Bruch des internationalen Rechts", kündigten unmittelbar Sanktionen gegen Moskau, gegen alle, die an dieser Aggression beteiligt waren, an. Damit werden sich nun rasch die UN beschäftigen müssen, in deren Sicherheitsrat freilich Russland und China ihr Vetorecht ausüben.

Anders als nach der Tragödie auf dem Maidan und der Annexion der Krim im Frühjahr 2014 (die übrigens ebenfalls am Tag nach dem Ende der Olympischen Winterspiele in Sotschi erfolgte, diesmal kam der Angriff nach der Abschlussfeier in Peking) kam die Reaktion aus der westlichen Welt umgehend und gut abgestimmt.

EU, Nato und USA mit all ihren Verbündeten hatten sich seit Wochen darauf vorbereitet, wurden von den Tricks Putins nicht überrascht. Er hatte bis zuletzt mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und dem deutschen Kanzler Olaf Scholz Scheinverhandlungen geführt, obwohl seine Entscheidung zur Militärintervention längst gefallen war.

Sein jüngstes Vorgehen weist einige Parallelen zu seinem Handeln im Jahr 2014 auf und noch mehr zur Intervention russischer Truppen in Georgien im Jahr 2008. Beseelt von einer "historischen Aufgabe", einem Besitzanspruch auf frühere sowjetische Teilrepubliken, stiftet er in souveränen Staaten zunächst Unruhe, um sich dann mit der Armee ganze Regionen mit starkem russischen Bevölkerungsanteil einzuverleiben.

Die gute Frage ist jetzt, wie der Westen, wie vor allem die Europäische Union mit Unterstützung der USA in diesem globalen, nur scheinbar regionalen Konflikt umgeht.

Nerven bewahren

Zunächst einmal wird es wichtig sein, kühlen Kopf, gute Nerven zu bewahren, gerade in dieser hochgefährlichen Lage weiter zu versuchen, eine totale Eskalation zu vermeiden. Hilfreich ist, dass die Regierung der Ukraine mit Präsident Wolodymyr Selenskyj und die Bevölkerung sich so besonnen verhalten. Dieser betonte, dass Kiew weiter "auf eine friedliche und diplomatische Lösung setze", sich nicht zu einer militärischen Konfrontation provozieren lassen wolle. Das kann man gar nicht genug würdigen.

Denn es stimmt ja auch. So aggressiv Putins Vorgehen auch ist, der große Angriff, die Militäroffensive auf breiter Front im ganzen Land, zu der die russische Armee fähig wäre, ist noch nicht angelaufen. Nach wie vor bleibt es ein Rätsel, was Putin wirklich will. Es gibt Beobachter, die glauben, dass der russische Präsident nicht mehr einschätzbar ist, zum irrationalen Handeln neigt. Die bizarren Bilder, die ihn an gigantischen Verhandlungstischen oder beim Nationalen Sicherheitsrat mit Riesenabstand zu seinen Besuchern zeigen, deuten darauf hin, dass er gesundheitliche Probleme hat.

Weil die USA und auch die EU-Staaten die Ukraine zwar militärisch unterstützen, selbst aber nicht mit eigenen Soldaten einzugreifen bereit sind, bleibt ihnen zunächst das Gegenmittel der Sanktionen. Die wurden auch schon eingeleitet und dürften in einem ersten Schritt eher harmlos sein. Eine schrittweise Steigerung bis hin zum Ausschluss Russlands vom internationalen Finanzverkehr ist eingeplant.

Daneben muss weiterhin alles getan werden, um der Diplomatie und Verhandlungen Raum zu geben, auch wenn das mit dem vorsätzlichen Lügner im Kreml schwierig ist. Grundlage jeder Verhandlung, die zum Erfolg führen soll, ist Vertrauen. Dieses hat Wladimir Putin in den vergangenen Wochen verspielt.

Vielleicht wäre es sinnvoll, eine unabhängige hochrangige Vermittlerin einzuschalten, eine über alle Zweifel erhabene redliche Persönlichkeit. Es gibt diese Person, die guten Zugang in der EU, in den USA und auch zu Putin persönlich hat, eine mit großer Erfahrung. Sie heißt Angela Merkel. Die frühere deutsche Kanzlerin hat sich nach 16 Jahren im Dienste der Bundesrepublik Ruhe und Erholung wahrlich verdient. Aber vielleicht ist das ein Moment der Weltgeschichte, in dem sie eine Aufgabe hätte, die über allen anderen Interessen steht. Merkel könnte als UN-Sonderbeauftragte Friedensverhandlungen leiten, auch wenn die Lage fast aussichtslos scheint. (Thomas Mayer, 22.2.2022)