Die Rede Putins wurde von vielen Menschen live verfolgt.

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Ganze 56 Minuten lang übte sich Russlands Präsident Wladimir Putin am Montagabend in Frontalunterricht in Sachen Geschichte. Genauer gesagt: russischer Geschichte. Denn jenes Land, dessen Grenze seine Soldaten wenig später überschritten, ist nach Putins Darstellung nicht etwa ein Resultat seiner eigenen, also der ukrainischen Geschichte, sondern nichts weiter als "Fehler" in der russischen Geschichte.

"Die heutige Ukraine ist ganz und gar von Russland erschaffen worden."

Mithilfe seines streckenweise langatmigen pseudohistorischen Abrisses gab sich Putin alle Mühe, die Russinnen und Russen darauf einzuschwören, diesen Lapsus nun Stück für Stück zu korrigieren. So direkt wie selten ein Staatsmann zuvor stellte Putin an diesem kalten Winterabend in Moskau die Existenzberechtigung eines anderen Landes in Abrede.

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Und so sehr Moskau die Welt in Zweifel hatte verharren lassen, was die Beweggründe für sein Säbelrasseln sein mochten, so deutlich wurde der Autokrat in seiner Rede. Um seinen wenig später folgenden Marschbefehl zu rechtfertigen, sprach Putin von einem – freilich unbewiesenen – Völkermord an Russinnen und Russen im Donbass:

"Die sogenannte zivilisierte Welt (...) zieht es vor, dies nicht zu bemerken."

Um das Schlimmste zu verhindern, müsse Moskau nun dringend aktiv werden, sagte Putin. Darum sprach er aus, was in der Ukraine und in den Hauptstädten des Westens schon seit längerem als ein mögliches Szenario gehandelt worden war:

"Ich halte es für notwendig, eine längst überfällige Entscheidung zu treffen, nämlich die Unabhängigkeit und Souveränität der Volksrepublik Donezk und der Volksrepublik Luhansk unverzüglich anzuerkennen."

Überhaupt, so Putin in seiner stellenweise in aggressivem Tonfall gehaltenen Rede, die viele Beobachterinnen und Beobachter schon kurz darauf als "historisch" einstuften, sei die Ukraine für Russland nichts weniger als "ein integraler Bestandteil unserer eigenen Geschichte, Kultur und unseres spirituellen Raums". Dass sich Kiew seit dem Ende der UdSSR 1991 Hauptstadt eines souveränen Staates nennen darf, ist in Putins Augen das Werk des russischen Revolutionsführers Lenin, der damals den Begehrlichkeiten der "glühendsten Nationalisten" in der Ukraine nachgekommen sei – völlig unnötigerweise, wie Putin ein Jahrhundert später zu wissen glaubt. Dass Millionen von Ukrainerinnen und Ukrainern unter Lenins Nachfolger Stalin zu Tode kamen, ließ Putin freilich unerwähnt.

Die Ukraine sei als Staat aber auch deshalb nicht lebensfähig, weil, so Putin, westliche – vor allem US-amerikanische – Interessen für massive Korruption im Land sorgten.

"Die Ukraine ist (...) bis auf das Niveau einer Kolonie mit einem Marionetten-Regime gebracht worden."

Dieses drangsaliere sein Volk durch hohe Energiepreise, selbst das Wasser sei viel zu teuer, führte der russische Präsident an. Tatsächlich rangiert die Ukraine auf dem Korruptionswahrnehmungsindex der NGO Transparency International auf dem schmählichen 122. Platz weltweit – Russland, dessen Präsident dem Nachbarland Korruption vorwirft, liegt aber mit Platz 136 noch um einige Ränge weiter hinten.

Putin begnügte sich in seiner Rede aber nicht mit historischen Referenzen, sondern wagte auch einen Blick in die Zukunft – freilich ganz nach seiner Lesart. Die Nato habe Russland umzingelt, sagte Putin:

"Sie haben uns betrogen."

Die Ukraine spiele dabei die Rolle eines willfährigen Schergen des Westens, der mit dessen Hilfe hochgerüstet werde.

"Wir wissen auch, dass es bereits Erklärungen gegeben hat, dass die Ukraine ihre eigenen Atomwaffen entwickeln wird."

Dass Russland seit Monaten zehntausende Soldaten an der Grenze postiert und jüngst gar die Zuverlässigkeit seiner strategischen Nuklearwaffen getestet hat, erwähnte Putin in seiner Brandrede mit keinem Wort. (Florian Niederndorfer, 22.2.2022)