Hat die blickdichten Strumpfhosen des Landlords inzwischen ausgezogen: Ian Anderson, Mastermind von "Jethro Tull".

Foto: Oly Ia

Warum irgendeinem lauen Kirchengänger Trivialitäten in den Mund legen? Selbst ist der Gott! Es ist der unbarmherzige Herr im Himmel, den man aus dem Alten Testament kennt, der auf dem neuen Jethro-Tull-Album The Zealot Gene die Stimme erhebt. Um die Allmacht dieser sich nur alle paar tausend Jahre artikulierenden Instanz nicht allzu störend fühlbar werden zu lassen, bedient Gott sich – List des Allerhöchsten! – eines ebenso kultivierten wie einschmeichelnden Organs.

Es übt angenehme Zurückhaltung, klingt nasal, ist "very british" und gehört Ian Anderson. Dieser, ein bewährter Gentleman, Querflötist, Lachszüchter, hatte zuletzt auf seine Weltmarke (Jethro Tull) großzügig Verzicht geleistet. War unter eigenem Namen durch Osteuropa getourt, um nachwachsende Generationen mit Klassikern des Progressive Rock vertraut zu machen. Liedern, die einem wie Whippets um die Beine herumspringen: Aqualung, Thick as a Brick (Letzteres eine Paradenummer von nicht enden wollender instrumentaler Brillanz). Sie alle gehören einem goldenen Zeitalter an, als Bands wie Tull im Jahresrhythmus Meisterwerke herausbrachten.

Schweifende Melodien

Ein halbes Jahrhundert und eine Pandemie später hat sich Anderson der herausragenden Merkmale seiner Wald- und Wiesen-Combo besonnen. Die neuen Lieder besitzen die gewohnt schweifende Melodieführung, wie sie dem britischen Folkrock eignet. Die schrill überblasene Querflöte geleitet einen sicher in die saftigsten Gefilde Südenglands. Dorthin also, wo Einhörner grasen, Faune die Köpfe in heilignüchternes Wasser tunken. Wobei Jethro Tull immer schon der mehr lebensweltlichen Fraktion des Prog angehörten: Anderson fütterte die Rosse im Stall noch höchstselbst. Er trug blickdichte Strumpfhosen (diese unangenehme britische Nässe!) und spielte die Flöte einbeinig, wodurch er aussah wie ein skurriler Wasservogel.

Jethro Tull

Das Album The Zealot Gene (Sony), von meisterlicher Geschlossenheit, enthält eine Menge Bibelgeschichten über Eiferer und Verräter, über Sodom und Gomorrha. Man wird die Entfesselung alter Stürme, das Gitarrengebraus von Martin Barre nicht erwarten dürfen. Letzterer, kaum minder wattebärtig als sein vormaliger Brotgeber, arbeitet heute auf eigene Rechnung. Aber man wird nachhaltig an alte Vorzüge erinnert: an die Apotheose einer immergrünen Landschaft. An den Duft von Earl Grey, an knochenharte Cookies. Und an einen Songwriter, der bereits vor 40 Jahren vor der leichtfertigen Zerstörung unserer Umwelt warnte (North Sea Oil).

Will die Menschheit heute immer noch nicht hören: Nun, dann muss Gott der Herr eben die Stimme erheben. Es ist die eines Gentleman. (Ronald Pohl, 24.2.2022)