Leif Eriksson (Sam Corlett) auf großer Fahrt.

Foto: Bernard Walsh/Netflix

So sieht Netflix die wilden Wikinger.

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Eine Kämpferin wie Freyda (Frida Gustavsson) hat es bei den Wikingern vermutlich nicht gegeben.

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Der Archäologe Matthias Toplak rückt die Bilder von den Wikingern zurecht.

Foto: Michael Staudt 2021

Die Originalserie "Vikings" hat Matthias Toplak nie gesehen. Und "Vikings: Valhalla" schaut sich der Archäologe und Leiter des Wikingermuseums Haithabu in Schleswig auch nur an, weil DER STANDARD ihn um seine Expertise gebeten hat. Seit Freitag heißt es in und um Kattegat wieder "Jeder gegen jeden". Die neuen Folgen produzierte Netflix, "Vikings"-Erfinder Michael Hirst stand Pate.

Was die Spannung betrifft, so scheint sich der Wissenschafter ganz gut unterhalten zu haben, jedenfalls gibt er immerhin sieben von zehn Punkten. Was die Faktengenauigkeit betrifft, heißt es aber Daumen nach unten: null Punkte. Die Serie spielt in der Zeit von Leif Eriksson, Sohn des berühmten Wikingers und Grönland-Entdeckers Erik des Roten, und das ist schon einmal ein guter Anlass, den Experten zu fragen:

STANDARD: Wer war Leif Eriksson, und was hat er genau gemacht?

Toplak: Wir kennen Leif Eriksson aus rein literarischen Quellen, die nach der Wikingerzeit geschrieben wurden. Ich tendiere allerdings dazu, ihn durchaus als historische Person zu fassen. Wir können davon ausgehen, dass Leif Eriksson ungefähr 970, 980 auf Island geboren wurde und dann als kleiner Junge mit seiner Familie nach Grönland übersiedelte. Er hat zwei relevante Leistungen in seinem Leben zu verzeichnen. Zum einen segelt er um das Jahr 999 nach Norwegen, wird dort am Königshof christianisiert und bringt das Christentum nach Grönland. Unter anderem bekehrt er seine Mutter, seinen knorrigen alten Wikingervater Erik den Roten überzeugt er nicht. Zum anderen ist Leif Eriksson letztlich der erste Europäer in Amerika. Man weiß zwar nicht, ob er das berühmte Vinland auch als Erster gesehen hat, aber er ist zweifellos der Erste, der jemals einen Fuß darauf gesetzt hat.

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STANDARD: Die Serie bezieht sich auch auf König Aethelred II und das St.-Brice's-Day-Massaker der Engländer. Was ist damals passiert?

Toplak: Das St.-Brice's-Day-Massaker kennen wir aus historischen Quellen. Der angelsächsische König Aethelred – in den Quellen wird er "der Unberatene" genannt, was ein ziemlich treffender Beiname für ihn ist – hatte tatsächlich Angst vor einer Verschwörung der Dänen. Ab dem 9. Jahrhundert sehen wir eine ziemlich intensive Besiedlung von Dänen und Norwegern in England. Sie gründen dann auch ihr eigenes Reich, das Danelag. Dort galt das dänische Gesetz, und Aethelred hatte tatsächlich Angst vor dieser starken Gruppe an Fremden im Land. Angeblich ordnete er an, am 13. November 1002 alle Dänen im Herrschaftsreich töten zu lassen. Wie weit das Ganze tatsächlich passierte, wissen wir nicht. Es gibt zwei große Massengräber aus der Sicht der Archäologie, die möglicherweise auf einzelne Pogrome zurückzuführen sind. Dass es massenhafte Übergriffe gegeben hat, bezweifle ich. Dafür war Aethelred zu schwach und die Dänen viel zu stark.

STANDARD: Und dann kommt der große Racheschwur, in der Serie geleistet von König Knut von Dänemark, der alle Wikinger von Kattegat zu sich ruft und England dem Erdboden gleichmachen will. Das ist wahrscheinlich ein Spoiler, aber: Gelang ihm das?

Toplak: In der Historie ist das nicht Knut, sondern dessen Vater Sven Gabelbart. Ihm gelingt das – zumindest teilweise. Swen nutzt das Massaker als Ausrede für eine Invasion Englands, und in den folgenden zehn Jahren, ungefähr von 1003 bis 1013, attackiert er die englische Küste. 1013 schafft er es, den englischen Thron zu besteigen. Er vertreibt Aethelred ins Exil, stirbt allerdings schon ein Jahr später. Sein Sohn Knut wird von den Angelsachsen vertrieben und kann den Thron erst im Jahr 1016 zurückerobern. So gesehen ist dieser Racheschwur von Erfolg gekrönt, denn er führt dazu, dass für zwei Generationen skandinavische Herrscher auf dem englischen Thron sitzen.

STANDARD: Offenkundig geht es in der Serie sehr stark um die Christianisierung. Wie stand es um den Glauben der Wikinger?

Toplak: Tatsächlich finde ich an der Serie gut, dass die Christianisierung thematisiert wird, und auch, wie sie das tut. Der Mythos von den Wikingern als starken Heiden, die in ewigem Krieg gegen das vordringende Christentum stehen, ist nach wie vor weit verbreitet und entspricht nicht der Realität. Die Wikingerzeit ist eine Phase der Transition. Das Christentum kommt früh in den Norden. Wir haben bereits in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts erste Zeichen von christlichen Wikingergemeinden. Das wird allerdings in den meisten Fällen friedlich vonstatten gegangen sein, wurde als relativ offener Kult praktiziert und ließ sich so relativ problemlos in den eigenen mystischen Glauben integrieren. Es gab überzeugte Heiden, aber in den meisten Fällen dürfte die Christianisierung ein fließender Übergang gewesen sein.

STANDARD: Bei solchen Produktionen gibt es immer eine wissenschaftliche Beratung. Wie würden Sie deren Arbeit beurteilen?

Toplak: Die Frage ist, was "Vikings" sein soll. Wenn es eine historische Dokumentation ist, dann wurde nicht gut gearbeitet. Wenn es darum geht, eine spannende fiktionale Serie in einem Wikingersetting zu verorten, dann ist die historische Genauigkeit nicht von solcher Relevanz. Mit Sicherheit hätte man aber an der einen oder anderen Stellschraube besser arbeiten können. Die Wikingerzeit war viel spannender und faszinierender, als sie in Fantasieserien dargestellt wird.

STANDARD: Betreffend was?

Toplak: Die Kostüme, die Ausstattung haben nichts mit den Wikingern zu tun. Das ist pure Fantasie. Es ist aber die Fantasie, die die Leute sehen wollen, deshalb möchte ich dagegen nicht argumentieren. Man hätte aber für ein stimmigeres Bild durchaus auf historische Vorbilder zurückgreifen können. Mir fiel bei einer Szene auf, dass einer der Wikinger ein kleines Kreuz um den Hals trägt, das tatsächlich einem Fund nachempfunden war, während die anderen Gegenstände wieder pure Fantasie waren. Offenbar holte man sich ein paar Vorlagen, aber ansonsten wurde viel mehr Zeit und Arbeit darauf verwendet, etwas Neues zu erfinden, von dem man dachte, dass es zu den Wikingern passen würde. Das ärgert mich ein bisschen, weil es natürlich ein Stereotyp bedient, gegen das ich als Wissenschafter arbeite. Die Wikinger waren nicht die Barbaren in schwarzem Leder und Fellen. Ich würde mir wünschen, dass man so ein Medium wie "Vikings" auch nutzt, um ein etwas realistischeres Bild zu vermitteln, das vielschichtiger und spannender ist.

STANDARD: Welche historisch nachweisbaren Fehler haben Sie sonst noch entdeckt?

Toplak: Harald Sigurdsson wie auch Olav, der spätere Nationalheilige Norwegens, sind zum Zeitpunkt des Massakers entweder noch nicht geboren oder erst wenige Jahre alt. Offenbar wollten die Serienerfinder eine Gruppe von ziemlich interessanten historischen Persönlichkeiten nutzen und setzten sie in einen Zeitraum, der in Wahrheit sehr viel länger war.

STANDARD: Wir glauben, dank einschlägiger Filme und Serien ein sehr genaues Bild von den Wikingern zu haben. Clevere Kinder, starke Männer, geschickte Seefahrer, trinkfeste Gefährten, rau, robuste Kerle in Jute und Leder. Und nichts davon stimmt?

Toplak: Im Gegenteil, es stimmt fast alles. Das sind allerdings zwei Seiten einer Medaille. Wir haben die Überlieferung, dass Knuts Sohn Hardiknut sich bei einer Hochzeit totgesoffen haben soll. Dieses Klischee kommt nicht von ungefähr. Ich kann mir vorstellen, dass die Wikinger sehr raue Gesellen sein konnten, gleichzeitig waren sie elaborierte Kunsthandwerker und hatten ein großes Verständnis für Poesie. Sie liebten Wortspiele und verschachtelte Lobpreisgedichte auf die Herrscher. Das passt nicht so ganz in das Bild, das wir von ihnen haben.

STANDARD: Fairerweise muss man sagen, die "Vikings-Valhalla"-Wikinger tragen keine Helme. Die gab es so auch nicht?

Toplak: Natürlich trugen sie Helme, sie hatten nur keine Hörner. Hörner wären verteidigungstechnisch sinnlos. Der Sinn des Helms ist ja, die Angriffsfläche zu verkleinern. Mit Hörnern würde ich das genaue Gegenteil bewirken. Das ist seit "Wickie und die starken Männer" eines der schlimmsten Klischees, inzwischen kann ich darüber fast schon lächeln.

STANDARD: Frauen werden als sehr kriegerisch und selbstbewusst dargestellt. Wie waren die Wikingerfrauen?

Toplak: Nicht wie in der Serie. Wir haben keine Hinweise darauf, dass Frauen gekämpft haben. Es gibt ein berühmtes Grab in Schweden, in dem eine biologische Frau als sozialer Mann beigesetzt wurde – in Männerkleidung mit einer vollen Garnitur an Bewaffnung und zwei Pferden, was der Inszenierung des vollbewaffneten Reiterkriegers entspricht. Das ist ein singulärer Fund, der extrem faszinierend ist, von dem wir aber nicht genau wissen, was wir damit anfangen sollen. Wir wissen nicht, wer diese Frau war, warum sie so war, ob sie diese Waffen nur im Thron beigesetzt bekommen hat, ob sie sie zu Lebzeiten gar nicht getragen hat oder ob sie tatsächlich als Anführer mit den Waffen auf dem Pferd den Truppen vorangeritten ist.

STANDARD: In jedem Fall aber eine Ausnahmeerscheinung.

Toplak: Frauen hatten in der Wikingerzeit eine hohe Rolle, sie hatten viel mehr Rechte und Freiheiten als in anderen zeitgenössischen Kulturen. Frauen konnten sich unter bestimmten Umständen scheiden lassen, waren alleine geschäftsfähig, konnten als Witwen den Hof alleine weiterführen, und sie waren erbberechtigt. Gleichberechtigt wie in "Vikings: Valhalla" waren die Frauen aber nicht. Sie durften sich zum Beispiel politisch nicht äußern, sie kämpften nicht – wenngleich sie auf ihre Männer und Söhne massiven Einfluss hatten.

STANDARD: Verhältnismäßig spät kommt in "Vikings: Valhalla" die obligatorische Sexszene, sie ist zärtlich und erotisch. Wie trieben es die Wikinger?

Toplak: Dazu können wir Archäologen leider nur sehr ungenaue Aussagen treffen. Wir haben Erwähnungen von arabischen Reisenden, die zu den Wikingern kamen und die zum Teil schockiert waren von deren Freizügigkeit. Da wird beschrieben, dass die Wikinger in aller Öffentlichkeit mit ihren Sklavinnen geschlafen haben und dass sie sich nach dem Sex nicht einmal die Hände gewaschen haben, was natürlich für einen arabischen Diplomaten unerhört war! Wir können von einer relativ freieren Sexualmoral ausgehen, als wir sie heute haben. Ich glaube aber nicht, dass das Konzept der freien Liebe, wie es bei "Vikings" gezeigt wurde, tatsächlich weit verbreitet war.

STANDARD: Was wissen Sie über die Feste der Wikinger? In Serien sind die ausschweifenden Feste wichtiger Bestandteil.

Toplak: Das ist wiederum der Punkt, an dem ich sagen muss, das Klischee stimmt in gewisser Weise. Die Wikinger waren nicht dauerbetrunken, dafür war der Alkohol in der Form gar nicht da. Wir können allerdings davon ausgehen, dass große Feste, bei denen auch ordentlich getrunken wurde, zum Jahreskalender gehörten. Es gibt aus isländischer Überlieferung die Erzählung über eine Hochzeit. Dort hieß es, es sei niemand zu Tode gekommen, weshalb nichts weiter zu dieser Hochzeit zu sagen sei. Eskalierende Feste waren durchaus üblich.

STANDARD: Was macht die Wikinger so attraktiv für Streamingserien?

Toplak: Die Wikinger sind die Rocker der Frühgeschichte. Die Wikinger stehen für Wildheit, Abenteuerlust, Freiheit, für etwas Ursprüngliches, für etwas, das in unserer sich immer schneller verändernden Welt fehlt. Der polnische Philosoph Zygmunt Bauman bezeichnet das Ganze als Retropia, diesen Sehnsuchtsort, eine perfekte Leerstelle, durch die wir uns in die Vergangenheit flüchten können. (Doris Priesching, 26.2.2022)