Wann immer irgendwo in der Welt ein Krieg ausbricht, humanitäre Verbrechen drohen oder sonst wie Völkerrecht gebrochen wird, ist Österreichs Diplomatie besonders gefordert. Die Neutralität des Landes genießt bei der großen Mehrheit der Bevölkerung ein so hohes Ansehen, dass eine klare Positionierung zu einem Konflikt für jede Regierung heikel ist, egal in welcher politischen Zusammensetzung.

Der erste Reflex ist in der Regel: Zurückhaltung, lavieren, abwarten statt Partei ergreifen. Verständlich. Man will die Bürgerinnen und Bürger nicht verprellen. Die Ausrufung der Neutralität war 1955 zur Erlangung der Freiheit nach dem Zweiten Weltkrieg von zentraler Bedeutung. Im Kalten Krieg der Ost-West-Konfrontation konnte man sich mit ihr der Illusion hingeben, vor militärischen Übergriffen geschützt zu sein.

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Der Bundeskanzler positioniert sich in der Ukraine-Krise deutlich.
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Diese Lesart ist historisch längst widerlegt. Aber geblieben ist bis heute ein breiter allgemeiner Grundkonsens, dass wir im Zweifel lieber neutral statt solidarisch sind. Das ist seit jeher ein Missverständnis. Die UN-Charta erlaubt bei Völkerrechtsbrüchen auch Neutralen ein Eingreifen.

Seit dem EU-Beitritt gilt das noch mehr. Österreich hat sich verpflichtet, bei kollektiven Aktionen der EU – wie Sanktionen gegen Russland – nicht im Weg zu stehen. Es gilt: Solidarität vor Neutralität. "Wir sind neutral, aber nicht bei Völkerrechtsbrüchen" wie in der Ukraine. So klar und deutlich wie Karl Nehammer hat das bisher wohl kein Bundeskanzler gesagt. (Thomas Mayer, 23.2.2022)