Im Gastblog taucht der Musikwissenschafter Eike Feß tief in die Nachlassenschaft des Komponisten Schönberg ein.

Die Aufarbeitung historischer Nachlässe erfordert stets Prioritäten. Am Anfang der Erfassung stehen meist Dokumente, die zum Erkenntnisgewinn über die im Zentrum stehende Person oder Sache von vorrangiger Bedeutung sind. Im Falle des Komponisten Arnold Schönberg, dessen Nachlass seit 1998 am Arnold Schönberg Center Wien aufbewahrt wird, sind Lebens- und Schaffensdokumente wie Musikautografe, Schriften, Briefe, Kalender, aber auch Gemälde, Fotografien und Alltagsgegenstände bereits weitestgehend katalogisiert und auch in großem Umfang digital zugänglich.  

Ein typischer „Dachbodenfund“ ist in einer solchen Sammlung schwer möglich. Zu Überraschungen kommt es eher bei Objekten, denen lange Zeit keine Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Dazu gehören die erst 2004 nach über 100 Jahren wiederaufgeführten Walzer für Streichorchester von 1897, deren Melodienseligkeit erst beim zweiten Hören die Persönlichkeit des späteren Exponenten der Moderne erahnen lässt; oder sämtliche Negative aus Schönbergs privatem Fotobestand, die 2015 im Rahmen eines Ausstellungsprojekts digitalisiert wurden und ungeahnt plastische Einblicke in die Lebenswelt des Komponisten erlauben.

Die jüngste Entdeckung betrifft akustische Zeugnisse aus dem Nachlass: eine lediglich rudimentär erfasste Sammlung von über 400 Schellackplatten, die mit herkömmlichen Abspielgeräten nicht hörbar gemacht werden können, ohne den Klang nachhaltig zu verfärben oder gar das Objekt selbst zu gefährden. Eine Kooperation des Arnold Schönberg Center mit der Österreichischen Mediathek zur fachgerechten Digitalisierung des Bestands brachte nicht nur klingende Musik hervor, sondern kam manchmal dem Öffnen einer von Andy Warhols "Time Capsules" nahe – freilich in akustischer Form.

Arnold Schönbergs Schallpalttensammlung im Arnold Schönberg Center, Wien.
Foto: Arnold Schönberg Center, Wien

Im Gegensatz zu seinem Freund und ehemaligen Schüler Alban Berg, war Schönberg kein leidenschaftlicher Plattenhörer. 1930 erklärte er das Grammophon in einer Rundfrage zu Mediennutzung rundheraus als „Feind, der unaufhaltsam vorrückt […]. Die schlimmsten Schäden, die er bewirkt, bestehen [in] der Gewöhnung des Ohres an einen unsäglich rohen Ton und an die breiige unklare Zusammensetzung des Klangkörpers, die jede feine Unterscheidung ausschließt.“

Nüchtern betrachtet hatte Schönberg recht: Tiefe Frequenzen werden aufgrund der begrenzten Größe des Schalltrichters beschnitten, hohe Frequenzen scheitern am Zusammenspiel zwischen Nadel und Membran. Hinzu kommen Verzerrungen, die aus der Überforderung der Technik durch das breite Spektrum mancher Aufnahmen entstehen. „Rein und natürlich“ klang das allenfalls in den Ohren der Sanatoriumsgesellschaft, die sich in Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“ durch Grammophonvorführungen unterhalten ließ. Offensichtlich transportiert auch eine technisch mediokre Aufnahme mehr, als eine akustische Analyse zu Tage fördern kann.

Liebe Großmama! Ich gratuliere dir zum Geburtstag!

Das Stichwort „transportieren“ ist geradezu wörtlich zu nehmen in Anbetracht eines Tonträgers mit kleinem Durchmesser, der für den Versand vorgesehen war. Das Objekt, laut Label eine „RCA Victor Home Recording Record“, ist leicht, geradezu fragil. Jeder Abspielvorgang bedeutet eine Abnutzung des porösen Materials – ähnlich Flexidiscs, die sich auch heute noch gelegentlich in Musikmagazinen finden.

Schwer zu deuten ist die Beschriftung: „ARTRUNUR | Arnold, Trude, Nuria Schoenberg | 20. I. 35“ – es handelt sich um Vater Schönberg, seine Frau und die gemeinsame Tochter. Alle drei befanden sich seit Oktober 1933 im Exil in den Vereinigten Staaten, nachdem Schönberg in Folge der Machtübernahme der Nationalsozialisten seiner Professur an der Berliner Akademie der Künste enthoben wurde. Unter den zunächst in Wien verbliebenen Familienmitgliedern war auch Gertrud Schönbergs Mutter, Henriette Kolisch. Die Platte enthält eine Grußbotschaft an die „Großmama“, die mit einem von RCA Victor vertriebenen Gerät aufgezeichnet wurde und nach Österreich expediert werden sollte.

Die Eltern sprechen über das Gästezimmer im warmen Kalifornien, die Kälte in Wien und Henriettes selbstgemachte Marmelade. Im Zentrum steht jedoch die abschließende Botschaft der dreijährigen Nuria, die hinter dem launigen Charakter der Aufnahme auch als dringlicher Appell zu hören ist: „Liebe Großmama! Ich gratuliere dir zum Geburtstag! Komm sehr schnell her!“

Arnold Schönbergs 1899 während der Sommerfrische in Payerbach komponiertes Streichsextett „Verklärte Nacht“ op. 4, erschien exakt 25 Jahre später als erste Schallplattenproduktion seines Schaffens bei der National Gramophonic Society. Die in England beheimatete Gesellschaft bot Subskriptionen für Aufnahmen klassischer Werke an, die stets ohne Kürzungen aufgezeichnet wurden – keine Selbstverständlichkeit in der Frühphase der Tonträgergeschichte. Das erweiterte Spencer Dyke Quartet spielt nüchtern und klangschön und dürfte damaligen Hörerinnen und Hörer eine willkommene Gelegenheit geboten haben, Schönbergs Musik näher kennenzulernen.

Verklärte Nacht

Ganz andere Dimensionen eröffnet die vier Jahre später durch den Komponisten selbst geleitete Aufzeichnung der Orchesterfassung von Opus 4 durch die „Deutsche Ultraphon AG“, die mit renommierten Künstlerinnen und Künstlern wie Marlene Dietrich und Erich Kleiber zusammenarbeitete. Die Einspielung der „Verklärten Nacht“ mit der Staatskapelle Berlin entstand im Tanzsaal des Lokals „Victoria-Garten“ in Berlin-Wilmersdorf, der für seine hervorragende Akustik bekannt war. Nach der ersten Sitzung verhinderten rechtliche Probleme seitens des Orchesters den Abschluss der Produktion, weshalb Schönberg lediglich drei Probe-Platten der Takte 1–200 erhielt. Weitere Kopien der Aufnahme haben sich nicht erhalten.

Test-Pressungen Verklärte Nacht op. 4, Ultraphon Berlin.
Foto: Arnold Schönberg Center, Wien

Die „Verklärte Nacht“ beginnt mit einem viermal wiederholten d in den tiefen Streichern. Schönberg wählt ein langsames Tempo, um jeden Ton entsprechend seiner musikalischen Vorstellung zu artikulieren – akzentuiert im Ansatz, einmal fast aggressiv und zweimal etwas breiter ausgespielt. Die bald einsetzende Melodie entwickelt sich unter feinen Tempomodulationen. Dadurch entsteht emotionale Intensität, vor allem aber werden strukturelle Eigenschaften der Musik, melodische Phrasen und formale Abschnitte hervorgehoben. Als heutige Hörerinnen und Hörer können wir uns unter Anleitung des Komponisten durch das Stück führen lassen – die klanglichen Einschränkungen des Mediums sind darüber bald vergessen.

Privataufnahmen mit dem Kolisch-Quartett

Zu den eindrücklichsten Dokumenten, in denen die "Aufführungslehre der Wiener Schule" zu Klang wird, gehören Privataufnahmen sämtlicher Streichquartette Schönberg, die zwischen 29. Dezember 1936 und 8. Jänner 1937 durch das Kolisch-Quartett in den United Artists Filmstudios in Los Angeles entstanden.

Zum Selbstkostenpreis konnten ausgewählte Personen, darunter Jascha Heifetz und George Gershwin, eines von 25 Sets mit je 23 Schallplatten erwerben. Initiiert wurde das Projekt von Schönbergs Schüler Alfred Newman, erfolgreicher Filmmusikkomponist in Hollywood. Technisch betrachtet waren die Voraussetzungen ideal, angesichts der teuren Studiozeit standen jedoch nur wenige Aufnahmestunden zur Verfügung. Die vier Musiker waren mit Schönbergs Schaffen vertraut und hatten seine Werke bereits in Europa vielfach aufgeführt – außer dem Streichquartett Nr. 4 op. 37, das am Abend nach der Aufnahme erst seine Uraufführung erleben sollte.

Die Aufnahme des dritten Satzes scheint von dieser schwierigen Situation unberührt. Die vollständige Zwölftonreihe des Werkes erklingt in Form einer weit ausgreifenden Melodie im Unisono der vier Streicher. Bereits der erste Ton erfährt über fast acht Sekunden feine dynamische Veränderungen, gestützt durch ein wohl dosiertes Vibrato. Nach einer absteigenden Figur im Violoncello beginnt ein neuer Abschnitt, dessen melancholische Stimmung einer außermusikalischen Deutung des Stücks weite Horizonte öffnet.

Kolisch Quartett und Arnold Schönberg im United Artists Studio, 1937.
Foto: Arnold Schönberg Center, Wien

Eine transatlantische Hörreise

Schönbergs Schallplattensammlung, wie sie durch den Nachlass am Arnold Schönberg Center überliefert ist, lädt zu einer umfassenden Betrachtung im Katalog der Österreichischen Mediathek ein. Bei Highlights wie der Ersteinspielung der „Gurre-Lieder“ unter Leopold Stokowski muss man dazu 25 mal die (virtuelle) Plattenseite wechseln – der Aufwand lohnt sich.

Andere Tonträger geben Zeugnis von technischen Grenzen des Mediums, wie auch von den hohen Ansprüchen, vor die frühe Interpreten sich gestellt sahen. Dabei steht nicht immer Schönberg im Mittelpunkt: gelegentlich erhielt der Komponist auch Aufnahmen von Werken seiner Schülerinnen und Schüler, unter welchen er die junge Dika Newlin, die ihm 1949 eine „Sinfonia for piano“ sandte, als besonderes Talent schätzte.

Nach dem Krieg wurden Schallplatten wichtiges Kommunikationsmittel im Kontakt mit der Alten Welt. Aus Europa erhielt der Komponist mehrfach Tondokumente zum wiederaufblühenden Konzertwesen, die ihm Hoffnung auf ein Weiterleben seines Schaffens unabhängig von seiner direkten Einflussnahme machten. Zwischen diesen aus aufführungspraktischer Sicht besonders wertvollen Dokumenten finden sich immer wieder kleine Preziosen, wie ein gesprochener Geburtstagsgruß des Komponisten Adolph Weiss, oder eine höchstpersönliche Einführung des Komponisten zu seinem symphonischen Gedicht „Pelleas und Melisande“ op. 5. 

Erkunden lässt sich der Bestand auch in der Online-Ausstellung Schönberg. Eine transatlantische Hörreise der Österreichischen Mediathek, die in Kooperation mit dem Arnold Schönberg Center, Wien, entstand. Sie zeichnet Leben und Werk des über Ländergrenzen hinauswirkenden Komponisten nach und lädt zu einer Entdeckungsreise zu Wohn- und Wirkungsorten, musikalisch begleitet von Tonträgern aus dem Schönberg-Nachlass. (Eike Feß, 4.3.2022)

Eike Feß ist Musikwissenschafter und Archivar am Arnold Schönberg Center in Wien. 

Gemeinsam mit Therese Muxeneder kuratierte er 2021 die Onlineausstellung Schönberg. Eine transatlantische Hörreise der Österreichischen Mediathek

Literaturhinweise

Dörte Schmidt: Schönberg und die Schallplatte oder: Über die technische Reproduzierbarkeit der Musik und das Exil, in: Ereignis und Exegese. Musikalische Interpretation - Interpretation der Musik. Festschrift Hermann Danuser zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Camilla Borg et al. Schliengen 2011, 518-599.

Therese Muxeneder: Ethik des Bewahrens. Exil und Rückkehr des Schönberg-Nachlasses, in: Kulturelle Räume und ästhetische Universalität. Musik und Musiker im Exil. Herausgegeben von Claus-Dieter Krohn et al. München 2008, 44-66.

Markus Grassl, Reinhard Kapp (Hrsg.): Die Lehre von der musikalischen Aufführung in der Wiener Schule. Verhandlungen des Internationalen Collegiums Wien 1995. Wien, Köln, Weimar 2002 (Wiener Veröffentlichungen zur Musikgeschichte 3).

Arnold Schönberg: Mechanische Musikinstrumente, in: Pult und Taktstock 3/3-4 (März 1926), 71-75.

Fred Steiner: A History of the First Complete Recording of the Schoenberg String Quartets, in: Journal of the Arnold Schoenberg Institute 2/2 (1978), 122-137.