Genetische Analysen haben die Wissenschaften und auch das Wissen über den Menschen revolutioniert. Auch wenn unsere DNA nicht ganz so viel über uns verrät, wie sich viele Fachleute der Genetik erhofften, weil die Wechselwirkungen mit der Umwelt so komplex sind, ist sie aus zahlreichen Fachgebieten nicht mehr wegzudenken. Der Evolutionsbiologie beispielsweise. Durch immer bessere Methoden ist es mittlerweile sogar möglich, uraltes genetisches Material zu untersuchen (es wird als aDNA, also "ancient DNA", bezeichnet) – selbst wenn es nur noch in Spuren vorhanden ist.

Was sich daraus ableiten lässt, verdeutlichen zwei Studien, die diese Woche erschienen und an denen der Anthropologe Ron Pinhasi von der Universität Wien mitwirkte. Sie liefern neue Hinweise auf die Verwandtschaftsverhältnisse, Migrationen und damit auch Verhaltensweisen von Menschen im Laufe der Jahrtausende und sogar Jahrmillionen.

Neue Methoden für die Stammbaumforschung

Da wäre einmal der bisher größte Menschenstammbaum, der anhand von genetischem Material moderner und alter Populationen erstellt wurde. Wie eine Forschungsgruppe um Erstautor Anthony Wilder Wohns (Uni Oxford) im Fachjournal "Science" schreibt, können dadurch Schlüsselereignisse der Menschheitsgeschichte rekapituliert und örtlich wie zeitlich noch besser eingeschätzt werden. Dazu gehört beispielsweise die Auswanderung von Menschen aus Afrika.

Die Karte zeigt durch die Daten nachvollziehbare Abstammungslinien im Laufe der Zeit. Die Linien verbinden Vor- und Nachfahren, eingefärbt je nach geschätztem Alter der Vorfahren. Die orange-rötlichen Linien liegen etwa 1.000 Generationen zurück (etwa 25.000 Jahre), die dunkelvioletten 50.000 Generationen (mehr als eine Million Jahre).
Bild: Wohns et al., Science 2022

Dafür analysierte das Team um Wohns, der auch am Broad Institute von MIT und Harvard (USA) forscht, gut erhaltene Genome von mehr als 3.500 Personen aus 215 verschiedenen Populationen, die aus unterschiedlichen Regionen der Erde stammen.

Solche Daten sind oft schwierig zu vergleichen: Nicht immer sind analoge Sequenzen erhalten, besonders alte DNA ist oft stark degradiert und nur noch in Spuren vorhanden. In die aktuelle Analyse flossen daher ergänzend zu den besonders "hochwertigen" Genomen aus diversen Epochen der Menschheitsgeschichte 3.000 weniger gut erhaltene Genome ein. Die komplexen Unterschiede in der Vergleichbarkeit wurden eingerechnet, Verwandtschaftsbeziehungen rekonstruiert – durch Gensequenzen, die sich in Vor- und Nachfahren wiederfinden und so über Generationen hinweg erhalten bleiben.

Vielversprechende Forschungsgrundlage

Eine Video-Visualisierung zeigt hier auf einer Weltkarte die Abschätzung, wie sich menschliche Populationen im zeitlichen Rücklauf verbreiteten und wanderten, von der Gegenwart bis zur Entstehung der Gattung Homo vor grob zwei Millionen Jahren (oder etwa 80.000 Generationen). Die einzelnen Punkte repräsentieren dabei allerdings keine Wohn- oder Fundorte von analysierten Individuen, sondern die Schätzungen des Modells, wo die Vorfahren der Personen lebten. Die Berechnung basiert in diesem Fall auf der genetischen Variation einer Sequenz auf dem Chromosom 20 – also welche Varianten an dieser Stelle des Genoms in welchen Bevölkerungsgruppen auftauchen.

Die Visualisierung des Videos in Bildform: Im Zeitraum von jetzt bis vor etwa zwei Millionen Jahren wurden die Orte abgeschätzt, an denen die Vorfahren moderner Menschen aus einem Genomdatenprojekt lebten. Dadurch lassen sich ausschlaggebende Migrationsströme über die ganze Erde nachvollziehen.
Bild: Wohns et al., Science 2022

Die angewandte Methode, einen genetischen Stammbaum zu erstellen, ist äußerst vielversprechend, wie die Genetikerinnen Jasmin Rees und Aida Andrés (University College London), die nicht an der Studie beteiligt waren, in einem begleitenden Artikel verdeutlichen: "Es ist wahrscheinlich, dass die leistungsfähigsten Möglichkeiten, Rückschlüsse auf die Evolutionsgeschichte zu ziehen, auf diesen Methoden beruhen werden."

Regionalisierung in Afrika

Dass Menschen zu verschiedenen Zeiten auch unterschiedlich mobil waren, liegt auf der Hand. Heute ist es für viele Personen nicht ungewöhnlich, im Laufe eines Lebens nicht nur mehrere Kontinente zu besuchen, sondern auch den Lebensmittelpunkt um zigtausende Kilometer zu verlagern.

Auch viele jagende Gesellschaften in der Frühzeit von Homo sapiens in Afrika konnten es sich nicht erlauben, zu lange an einem Ort zu verharren. Das veränderte sich erst mit der Entwicklung der Landwirtschaft und der Sesshaftwerdung. Hier liefert eine weitere Studie dieser Woche eine interessante Ergänzung. Im Fachjournal "Nature" schreibt das internationale Team unter der Leitung von Mary Prendergast und David Reich (Harvard Medical School), dass die Menschen auf dem afrikanischen Kontinent bereits vor 12.000 Jahren zu einem regionaleren Lebensstil wechselten.

Überraschende Herkunftslinie

Zu dieser Zeit ging die letzte Eiszeit zu Ende, was auch die Mobilität, die Notwendigkeit für weite Reisen und die soziale und kulturelle Entwicklung beeinflusste. Zu diesem Schluss kommt die Forschungsgruppe anhand von sechs neuen Skelettfunden aus Subsahara-Afrika (Malawi, Tansania und Sambia), die 5.000 bis 18.000 Jahre alt sind.

In Malawi förderten Ausgrabungen menschliche Überreste zutage, die DNA für neue Analysen menschlicher Verwandtschaftsverhältnisse liefern.
Foto: Jacob Davis

Ihre DNA ist mehr als doppelt so alt wie bisher veröffentlichte Sequenzen aus diesem Raum. Das Erbgut dieser sechs Menschen wurde mit 28 weiteren Individuen aus verschiedenen Teilen des Kontinents verglichen. Die Analysen deuteten auf drei Herkunftslinien hin. Zwei davon, jene aus dem Nordosten und dem Süden Afrikas, waren bereits bekannt. Doch die dritte Linie, die nach Zentralafrika führte, war neu und verblüffte das Forschungsteam.

Berücksichtigt man Verwandtschaftsverhältnisse und den Lauf der Generationen, so lassen sich Rückschlüsse auf viel frühere Zeiträume ziehen: "Unsere Erkenntnisse aus den Proben, die 5.000 bis 18.000 Jahre alt sind, können wir auf die bekannten Bevölkerungsmuster vor 20.000 bis 80.000 Jahren umlegen", sagt der Anthropologe Ron Pinhasi.

Schmuck, der aus den Schalen von Straußeneiern gefertigt wurde, zeigt den kulturellen Austausch zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen.
Foto: Jennifer Miller

Helfende Handelsbeziehungen

Das Forschungsteam konnte modellieren, dass die Vorfahren der Menschen vor etwa 50.000 Jahren noch weite Strecken zurücklegten und Partnerschaften mit Mitgliedern ganz unterschiedlicher Gruppen eingingen. Dies unterstreicht auch eine Studie, die anhand von Schmuck aus Straußeneierschalen die Vernetzung von Bevölkerungsgruppen seit 50.000 Jahren nachvollzieht. Durch soziale und Handelsbeziehungen gelang es ihnen, die Lebensumstände während der Eiszeit zu bewältigen – gerade rund um das eiszeitliche Maximum vor gut 20.000 Jahren.

Doch dann begann ein Wandel. Und gerade mit Beginn des Holozäns, jener warmzeitlichen Epoche, die seit etwa 12.000 Jahren andauert, wurden die Netzwerke immer kleinräumiger. Gleichzeitig sei es zu einer kulturellen Wende gekommen, was archäologische Funde von Perlen, Farbstoffen und symbolischer Kunst verdeutlichen. "Die Menschen begannen, sich auf neue Art und Weise aufeinander zu verlassen", sagt die Archäologin Mary Prendergast. "Und diese Kreativität und Innovation hat den Menschen unter Umständen ermöglicht, sich zu entfalten." (sic, 25.2.2022)