Wegen US-Sanktionen gab Oleg Deripaska den Mehrheitsanteil am Konzern En+ ab.

Foto: imago images/ITAR-TASS

Weniger als vier Stunden beträgt die Flugzeit von Moskau nach London. Ein überschaubarer Zeitaufwand für Oligarchen und Konzernbetreiber, um in die bei Russen so beliebte englische Hauptstadt zu kommen. Nicht von irgendwo stammt der Beiname "Londongrad". Regelmäßig kam es in den vergangenen Jahrzehnten zu milliardenschweren Börsengängen in London von staatlich kontrollierten russischen Konzernen wie den Großbanken Sber und VTB, den Ölgiganten Rosneft und Gazprom oder dem Stahlproduzent NLMK.

Grundsätzlich werden die Papiere dieser Konzerne an der Moskauer Börse gehandelt, doch allesamt sind sie zweitgelistet an der London Stock Exchange. Daten von S&P Global zufolge sind dort insgesamt 31 russische Unternehmen vertreten mit einer gemeinsamen Marktkapitalisierung von rund 468 Milliarden Pfund (582 Milliarden Euro). Die russische Präsenz bedeutet gewaltige Einkommensströme in London, doch viel relevanter sind diese Firmen für ihr Heimatland. Einer Analyse des britischen Guardian zufolge zahlten 2020 in London gelistete Öl-, Gas- und Bergbaukonzerne 39 Milliarden Pfund (46,5 Milliarden Euro) Steuern an den russischen Staat.

Die USA, die EU und andere G7-Staaten wie Japan, Kanada und Großbritannien haben als Reaktion auf die russische Anerkennung der prorussischen Separatistengebiete in der Ostukraine erste Sanktionspakete beschlossen. Davon ist auch der russische Finanzsektor betroffen. Großbritannien hat Sanktionen gegen fünf kleinere russische Banken verhängt – Bank Rossiya, Black Sea Bank, Genbank, IS Bank und Promsvyazbank. Nur die Promsvyazbank steht auf der Liste der systemwichtigen Kreditinstitute der russischen Zentralbank. Zudem wurde das Vermögen von drei russischen Oligarchen eingefroren.

Keine Staatsanleihen

Der Zugang zum Finanzplatz London blieb bisher offen. Doch die britische Regierung ordnete am Mittwoch an, dass Russland in London keine Staatsanleihen mehr platzieren kann. "Wir haben sehr deutlich gemacht, dass wir den Zugang Russlands zu den britischen Märkten einschränken werden", sagte Außenministerin Lizz Truss.

Es ist unwahrscheinlich, dass die Sanktionen jede "russisch-britische" Firma treffen, doch realistisch gesehen kommt jedem in London gelisteten Unternehmen zumindest teilweise strategische Relevanz für die russische Regierung zu. Das gilt aber auch für Unternehmen, die direkt an der Londoner Börse gelistet sind. Zum Beispiel hat der Stahlkonzern Evraz, der zu 29 Prozent Roman Abramovich gehört – dem Besitzer des Londoner Premier League Clubs FC Chelsea –, wichtige Projekte in Russland am Laufen.

Einen sanktionsbedingten Umweg musste bereits der Aluminiumhersteller EN+ nehmen. Der Konzern gehört zum Teil dem russischen Oligarch Oleg Deripaska, der seit 2018 auf der Sanktionsliste der USA steht und dessen Geschäftsbeziehungen auch nach Österreich gehen. EN+ umging die Strafmaßnahmen, indem Deripaska seinen Mehrheitsanteil an der Firma aufgab.

Geschickte Veranlagung

In Großbritannien etablierte sich eine eigene Dienstleisterbranche mit dem Fokus auf russisches Geld. Sie legen Geld geschickt in Immobilien, aber auch Offshorekonten in britischen Überseegebieten an. Das geschickt veranlagte Geld gehört zwar wohlhabenden Russen, "kommt" aber von woanders – wiederum aus eng mit London verbundenen Finanzplätzen wie Zypern, den Kanalinseln oder den britischen Jungferninseln. Besonders Zypern gilt seit dem Zerfall der Sowjetunion als beliebter Anlaufplatz für russische Finanzen.

Experten sagen, London habe mit laxeren Transparenzpflichten den deutlich wichtigeren Finanzplatz New York ausgestochen, was auch die Politik weiß. Finanzinteressen spiegelten sich bei den Handlungen der Regierung wider. Als 2014 Russland die Halbinsel Krim annektiert hatte, passierte nichts. Nach dem Giftanschlag auf Sergei Skripal und seine Tochter Julija im Jahr 2018, verübt von russischen Agenten, ebenfalls nicht.

Aus Sicht mehrerer britischer Abgeordneter und Analysten passen die gesetzten Sanktionen nicht mit der angekündigten harten Linie von Premierminister Boris Johnson überein. Dieser verteidigte die Sanktionen und betonte, dass Großbritannien bei den Sanktionen gegen Russland international vorn dabei sei, wie britische Medien berichteten. Johnson kündigte zudem weitere militärische Unterstützung für die Ukraine an. (and, 24.2.2022)