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Am 26. Februar 2022, zehn Jahre nach seinem Tod, wurde in Sanford in Florida Trayvon Martin gedacht.

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Proteste im März 2012 in New York, kurz nach Trayvon Martins Tod.

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Es war ein regnerischer Sonntag, der 26. Februar 2012. Trayvon Martin, 17 Jahre alt, war auf dem Weg von einem Seven-Eleven zu einem Townhouse, in dem die Verlobte seines Vaters wohnte. In dem kleinen Supermarkt hatte er eine Tüte Kaubonbons und eine Büchse Fruchtsaft gekauft. Während er durch eine Siedlung zweistöckiger Reihenhäuser lief, "The Retreat at Twin Lakes" in Sanford, einer Stadt in der Mitte Floridas, sprach er am Handy mit Rachel Jeantel, seiner in Miami lebenden Freundin.

Er trug einen Hoodie, einen Kapuzenpulli, wie er gerade bei amerikanischen Teenagern beliebt war und ist. George Zimmerman, freiwilliger Wachmann einer Neighborhood Watch, in der sich besorgte Anwohner zusammenschlossen, um ihr Eigentum zu schützen, alarmierte die Polizei, als er Martin durch die Scheibe seines Autos erblickte. Was er zu sehen glaubte, war ein potenzieller Einbrecher, nach seinen Worten "ein wirklich verdächtigter Kerl". Gegen den Rat der Notrufzentrale stieg er aus seinem Geländewagen, um ihm zu Fuß nachzusetzen.

Zimmermann berief sich auf Notwehr

Das Gerangel, das folgte, endete damit, dass Martin tot auf einem Weg lag. Zimmerman, der den unbewaffneten Teenager erschossen hatte, berief sich hinterher auf Notwehr. Er habe, so bringt es Patrisse Cullors, eine junge Afroamerikanerin aus Los Angeles, später in ihren Memoiren zusammen, "entschieden, dass der Junge eine Bedrohung darstellte". "Weil er schwarz war und einen Hoodie trug."

Eine Jury von sechs Geschworenen glaubte der Notwehrversion und sprach Zimmerman am 13. Juli 2013 frei. In allen Punkten. Welchen Schock das Urteil bei ihr auslöste, auch das hat Patrisse Cullors eindrücklich geschildert in ihrem Erinnerungsband "When They Call You a Terrorist", das als nachträgliches Gründungsdokument der Bewegung Black Lives Matter (BLM) gelten kann. "Ich kriege keine Luft mehr. Mir rutscht das Herz in den Magen. Ich bin wie betäubt und für einen Moment starr. Als ich wieder anfange, mich zu bewegen, schalte ich in den Verdrängungsmodus. Nein! Das ist unmöglich. Moment mal, das ergibt doch keinen Sinn."

In Oakland, sieben Autostunden nördlich von L.A., schreibt Alicia Garza, auch sie eine junge schwarze Frau, damals Anfang 30, bei Facebook auf, was ihr in den Minuten nach dem Freispruch durch den Kopf ging. "Hört auf zu sagen, dass wir nicht überrascht sind. Das ist an sich eine Schande." Was sie nach wie vor überrasche, sei, wie wenig ein schwarzes Leben zähle. Man müsse aufhören, schwarzes Leben einfach abzuschreiben. "Schwarze Menschen, ich liebe euch. Ich liebe uns. Unsere Leben sind etwas wert." Cullors antwortet mit einem Hashtag und der Zeile BlackLivesMatter. "Wir sind entschlossen, mit genau diesem Konzept an die Öffentlichkeit zu gehen: dass unsere Leben etwas bedeuten", fügt sie hinzu.

Falsche Versprechungen

Der ungesühnte Tod Trayvon Martins, er war der sprichwörtliche Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Was auch mit Barack Obama zu tun hatte. Mit den Hoffnungen, für die der erste schwarze Präsident im Weißen Haus stand. Und die auch unter ihm nicht erfüllt werden konnten. Cullors spricht von einer längeren Phase der Ruhe, des Sich-Geduldens, die an den Twin Lakes in Sanford zu Ende ging. "Die letzten Jahre des 20. Jahrhunderts haben uns, ebenso wie die ersten des 21., mit falschen Versprechungen zum Schweigen gebracht", schreibt sie in ihrem Buch. "Mit dem Versprechen, dass wir, wenn wir einfach den Mund halten und machen, was man uns sagt, Oprah oder Puffy oder LeBron sein könnten. Oder, wenn ich das sagen darf, Barack Obama."

Die Talkshow-Königin Oprah Winfrey, der Rapper Sean John Combs alias Puffy, der Basketballstar LeBron James – das Trio stand, wie auch der Hoffnungsträger im Oval Office, für vermeintlich erreichte Chancengleichheit. Mit der Lebenswirklichkeit der meisten schwarzen Amerikaner hatte es wenig zu tun. Mit einer Realität, wie Cullors sie in Van Nuys erlebte, einem von Afroamerikanern und Hispanics bewohnten Stadtteil von Los Angeles, den nur ein Canyon vom mondänen Beverly Hills trennt.

In Van Nuys wuchs sie auf, "in einem zweistöckigen, ockerfarbenen Haus, von dessen Fassade die Farbe blätterte, wo es ein Tor gibt, das nicht richtig schließt, und eine Gegensprechanlage, die nicht funktioniert". Ihre Mutter arbeitet in mehreren Jobs, um die Kinder ernähren zu können. Der leibliche Vater, den sie erst als Jugendliche kennenlernte, sitzt immer wieder wegen Drogendelikten hinter Gittern. Sie selber wird mit zwölf festgenommen, weil sie Marihuana raucht, an einer Schule in einem besseren Nachbarviertel, an der mehrheitlich weiße Kinder lernen, nach ihren Worten Mitschüler, die auf der Toilette Gras rauchen, "ohne dass irgendwer Ärger bekommt".

Soziale Netze sind löchrige Fragmente, seit unter dem Republikaner Ronald Reagan wie später auch unter dem Demokraten Bill Clinton die Mittel gekürzt wurden. In Van Nuys gibt es nichts, wo Heranwachsende ihre Freizeit sinnvoll verbringen könnten. Dafür Polizisten, die sich oft aufführen wie Besatzer in einem fremden Land. "Wir waren die Ist-doch-egal-wenn-ihr-versinkt-Generation. Und im Unterschied zu unseren Gegenübern an der Wall Street, wo deutlich mehr Crack-Kokain konsumiert und verkauft wird, hatten wir auch kein Mitarbeiterberatungsprogramm." Im Alltag, fasst Cullors ihre Sozialstudie zusammen, "hat die übergroße Mehrheit von uns einen Großteil ihrer Zeit damit verbracht, gegen weißes Überlegenheitsdenken anzukämpfen, ob uns das nun bewusst war oder nicht".

Ein Jahr nach dem Freispruch für Zimmerman stirbt in Ferguson, einer Kleinstadt in der Nähe des Flughafens von St. Louis, der 18-jährige Michael Brown. Der Polizeibeamte Darren Wilson, der sich wie Zimmerman auf Notwehr beruft, hat mindestens sechs Kugeln auf ihn abgefeuert, von denen zwei seinen Kopf trafen. Eine Grand Jury, eine Gruppe von Bürgern, die hinter verschlossenen Türen entscheiden muss, ob Anklage erhoben wird, lehnt einen Gerichtsprozess ab. Wer in den Tagen nach Browns Tod am 9. August 2014 auf den Straßen von Ferguson erlebte, wie sich angestauter Frust in heftigen Unruhen entlud, ausgenutzt von Trittbrettfahrern, die Geschäfte plünderten, dem haben Anwohner ein ums andere Mal geschildert, was die Emotionen fast noch mehr hochkochen ließ als die Tatsache des Todes an sich.

Browns lebloser Körper lag viereinhalb Stunden in brütender Sommerhitze auf dem Asphalt des Canfield Drive, einer zweispurigen Straße, die sich kurvenreich durch ein Wohngebiet schlängelt, ohne dass sich die Behörden um die Leiche gekümmert hätten. "Viereinhalb Stunden! Als hätten Safarijäger ein Stück Großwild geschossen und die Trophäe zur Schau gestellt." Es war eine Klage, wie man sie ständig hörte. Kaum einer, der nicht zu verstehen gab, mal hellauf empört, mal eher resigniert, dass schwarze Menschen auch dann noch wie Menschen zweiter Klasse behandelt wurden, wenn sie schon nicht mehr am Leben waren.

Ferguson als Zäsur

Wenn Sanford die Geburtsstunde der BLM-Bewegung war, dann symbolisierte Ferguson eine Zäsur, mit der sie massenhaften Zulauf erhielt. Aktivisten organisierten "Freedom Rides", Busfahrten nach dem Vorbild der frühen sechziger Jahre, als schwarze und weiße Bürgerrechtler die Regeln rassistischer Südstaaten demonstrativ ignorierten, Vorschriften, nach denen Schwarze in Bussen grundsätzlich hinten zu sitzen hatten. Was diesmal das Neue war, hat Wesley Lowery treffend analysiert, ein "Washington Post"-Journalist, der in Ferguson festgenommen wurde, weil er in einem McDonald’s-Imbiss, dessen Räumung die Polizei anordnete, nach Ansicht der Uniformierten nicht schnell genug seinen Platz räumte.

Die Großeltern der heutigen Demonstranten, so Lowery, hätten für das Recht gekämpft, überhaupt erst am politischen Prozess teilnehmen zu dürfen. Deren Kinder hätten sich darauf konzentriert, die neuen Möglichkeiten zu nutzen und einen Platz am Tisch einzufordern. Zwei Dekaden lang, seit den Neunzigern, habe es so ausgesehen, als sei der "Kampf der Straße" eine Sache von gestern. Bis die Black-Lives-Matter-Generation, desillusioniert und ungeduldig, auf den Straßen erschien.

Technischer Fortschritt, in Form von Handyvideos und Youtube, erlaubte ihr, exzessive Polizeigewalt zu dokumentieren. Vom Würgegriff des Beamten Daniel Pantaleo, der den New Yorker Eric Garner das Leben kostete, bis hin zu Derek Chauvins Knie im Nacken George Floyds, das den vor einem Supermarkt in Minneapolis gefesselt am Boden Liegenden die Luft zum Atmen nahm.

Im Juni 2020, wenige Tage nach Floyds Tod, wollten Meinungsforscher der Monmouth University herausfinden, ob sich das Stimmungsbild geändert hatte. Das Ergebnis: 76 Prozent der Amerikaner sahen in Rassismus und Diskriminierung ein großes Problem, während es fünf Jahre zuvor nur 51 Prozent gewesen waren. Zwei Drittel äußerten sich positiv, wenn auch abgestuft in den Nuancen, über Black Lives Matter. Weder zuvor noch danach war BLM so populär.

"Defund the police"

Was auch dazugehört: Seit die schockierenden Videobilder aus Minneapolis publik wurden, ist eine Parole in aller Munde, an der sich die Geister scheiden: "Defund the police". Was sie konkret bedeutet, darüber gehen die Meinungen auseinander. Die Zahl der Polizisten reduzieren? Lokalen Polizeikräften die Mittel streichen und eingespartes Geld für soziale Zwecke ausgeben? Bestehende Strukturen auflösen?

Eric Adams, der neue Bürgermeister New Yorks, der zweite schwarze Mayor in der Geschichte der Metropole, einst selbst Polizist, macht keinen Hehl aus seiner Skepsis. In schnörkelloser Prosa hatte er schon im Wahlkampf umrissen, wo er angesichts neuerdings wieder steigender Mordraten in amerikanischen Großstädten die Grenzen für Experimente sieht. "Ja, du kannst alle möglichen Reformen anpeilen. Aber wenn es auf deinen Straßen von Schusswaffen nur so wimmelt, dann werden immer noch zu viele Kids erschossen." (Frank Herrmann, 5.3.2022)