Verwaiste Wiener Innenstadt: Lockdowns sorgten für gespenstische Szenerien – mit abnehmender Wirkung.
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Den Patienten null gab es in Österreich im Doppelpack: Am 25. Februar 2020 wurde ein in Innsbruck lebendes Paar aus Italien positiv auf das Coronavirus getestet. Keine drei Wochen später stellte sich der erste Todesfall ein – weitere rund 14.000 Opfer sollten folgen.

Unvermeidlicher Tribut in zwei Jahren Pandemie, die den Alltag mehr auf den Kopf gestellt hat als jedes andere Ereignis in der Zweiten Republik? Oder hätte eine geschicktere Politik viele Tote vermeiden können?

Zweifellos sind andere Staaten weitaus schlechter ausgestiegen. Vor allem in Osteuropa lag die Übersterblichkeit – Todesfälle über das gewöhnliche Maß hinaus – deutlich höher. Aber das Mortalitätsmonitoring der Statistikabteilung Wiens zeigt auch, dass einige Länder mit vergleichbarem Wohlstand und Gesundheitssystem besser abgeschnitten haben. In Österreich liegt die Übersterblichkeit seit Anfang 2020 bei neun Prozent, in Deutschland hingegen bei fünf, in Finnland bei drei, in Dänemark gar bei nur einem Prozent.

Als "mittelprächtig" stuft Peter Klimek die Bilanz ein und sieht den ersten Fehler in der grundsätzlichen Linie. Nach Meinung des Forschers vom Complexity Science Hub wäre eine Niedriginzidenzstrategie wie in Dänemark klüger gewesen. Mit Restriktionen immer so lange zu warten, bis die Spitäler aus allen Nähten platzen, lasse Infektionswellen gerade in einem Land mit so vielen Intensivbetten wie Österreich enorm anwachsen, sagt Klimek, entsprechend mühsamer sei das Herunterkommen. Frühere Reaktionen hätten sich in kürzeren, milderen und womöglich regional beschränkten Lockdowns bezahlt gemacht – und in einem moderateren Wirtschaftseinbruch als Folge.

Allgegenwärtige Vermummung: Ärzte im Fernen Osten setzten im Februar 2020 einen Modetrend, der bald auch Europa erreichen sollte.
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Nicht nur zu spät, auch zu wenig habe Österreich auf heranrollende Wellen reagiert, fügt Thomas Czypionka an. Der Experte vom Institut für Höhere Studien (IHS) landet bei der Fehlersuche in den Sommern der Pandemie. In beiden Jahren beschlich ihn das Gefühl, dass sich die Corona-Politik mehr der PR denn der Vorbereitung auf den Herbst widme – woran besonders der damalige Kanzler nicht unschuldig war. Das ausgiebige Selbstlob für die Bewältigung der ersten Monate 2020 toppte Sebastian Kurz ein Jahr später mit jener berüchtigten Plakatkampagne, die trotz reichlicher Warnungen aus der Wissenschaft von der "gemeisterten" Pandemie kündete.

Auf den D-Day fixiert

Beide Male mündete die Autosuggestion in verheerenden Wellen samt Lockdowns und vielen Toten. Czypionka sieht deshalb nur einen begrenzten Lerneffekt in der Corona-Krise. Nie hätten sich die Verantwortlichen aus dem Modus lösen könne, dass in der Politik fast alles verhandelbar sei: "Mit dem Virus aber kann man nicht verhandeln."

Politiker seien darauf geschult, bis zu einem "D-Day" – den Wahltag – zu denken und sich auf die eigenen Zielgruppen zu konzentrieren, sagt Peter Filzmaier: Beide Muster seien in einer Pandemie, wo etwa eine Impfkampagne die gesamte Bevölkerung erreichen muss, verfehlt. Dass kurzfristige Taktik oft Vorrang vor langfristiger Strategie gehabt habe, hält der Politologe für den Kardinalfehler, der in einen fatalen Zickzackkurs gemündet habe. Das Phänomen sei – man denke an den britischen Premier Boris Johnson – keine heimische Spezialität, merkt Filzmaier an. Aber am Ex-Kanzler, der mit seinem Kommunikationstalent jede Kurve zu kratzen glaubte, kommt auch diese These nicht vorbei.

Ahnten nicht, was sie erwartet: Kanzler Kurz und Gesundheitsminister Anschober, heute beide mit Ex- versehen, bei einem frühen Krisentreffen im Februar 2020.
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Sprunghaft seien die zwischen furchterregenden Warnungen und sanften Appellen schwankenden Botschaften ebenso gewesen wie der Umgang mit der Fachwelt. Einmal wurden Expertinnen und Experten gar nicht, dann wieder punktuell und in wechselnder Besetzung vor den Vorhang geholt; erst vor zwei Monaten fand die Regierung mit der Gecko-Kommission ein beständiges Setting.

Die Verwirrung auf die Spitze getrieben habe das Hin und Her um die Impfpflicht, befindet Filzmaier: In einer – wie er meint – zur Ablenkung vom misslungenen Management im Herbst dienenden "Ho-ruck-Aktion" beschlossen Regierung und Landeshauptleute die angebliche Ultima Ratio, um hinterher Wege zum Aussetzen des Gesetzes zu suchen. Die Stagnation bei den Erstimpfungen zeige: Das Projekt ist objektiv gesehen gescheitert.

Unverständliches Durcheinander

Widersprüchlichkeiten wie diese verleiteten die Angesprochenen zur verständlichen Haltung, lieber gar nichts zu tun, sagt Filzmaier und siedelt den Höhepunkt der Kakofonie im "Kommunikationsdesaster" vor dem vierten Lockdown an. Regierungsvertreter und Landeshauptleute widersprachen sich damals fast zeitgleich, Letztere innerhalb von wenigen Stunden auch sich selbst.

Das regelmäßig aufflammende "Bund-Länder-Match" habe die Reaktionszeit auf die Infektionsentwicklung nicht nur verlangsamt, sondern auch zu inkonsistenten bis absurden Konsequenzen geführt, sagt der Experte Klimek. So sperrte Salzburg nach dem bisher letzten Lockdown im Frühjahr schneller auf als Wien, das dem Land eben noch Intensivpatienten abgenommen hatte. Beim Contact-Tracing und Impfen setzten die Bundesländer ebenso neun verschiedene Systeme auf wie beim Testen. Dass eine stringente Umsetzung besonders in letzterem Fall ein Wunschtraum blieb, zeigt das große Qualitätsgefälle hinter dem Vorreiter Wien.

Eine von vielen Maßnahmen mit umstrittenem Sinn: Der ältere Passant war in Sachen Disziplin beim Einhalten dieser Regel eher die Ausnahme.
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Nicht allein mit föderalistischem Wirrwarr ist ein anderes Hemmnis in der Pandemiebekämpfung zu erklären. Nur wenig habe sich die Verfügbarkeit von Daten gebessert, berichtet Klimek, immer noch fehle es etwa an automatischer Verknüpfung von Infektionszahlen mit sozioökonomischen Indikatoren. Nordische Staaten zeigen, wie wichtig solche Tools sind. Lässt sich etwa abfragen, wie, wann und wo sich Lehrer ansteckten, kann die Politik viel besser bewerten, ob Schulschließungen überhaupt wirken.

"Traditionelle Wissenschaftsfeindlichkeit" erkennt Czypionka als einen Grund: Hierzulande sei es schwierig, Ministeriumsvertreter für von der EU finanzierte Forschungsprojekte überhaupt zu interessieren. Dem Experten hallt noch jene Replik in den Ohren, mit der Clemens Martin Auer, Spitzenbeamter im Gesundheitsministerium, die Kritik an den fehlenden Zahlen parierte: Nach der Pandemie würden eh alle Daten zur Verfügung stehen.

Wurzeln in Kaisers Zeiten

Bei der Ursachenforschung lässt sich weit, bis in absolutistische Zeiten, ausholen. Dass das Kaisertum die Untertanen lange an Unmündigkeit gewöhnt habe, während sich anderswo Bürgerbewegungen durchsetzten, mag auch einen anderen kulturellen Nachteil erklären. In den erfolgreichen Nordstaaten, so die These, sei die Corona-Disziplin aus Eigenverantwortung weitaus höher.

Tatsächlich führt stärkerer gesellschaftlicher Zusammenhalt, wie er in Skandinavien ausgeprägt ist, laut einer Lancet-Studie zu niedrigeren Infektionsraten und höheren Impfquoten, das Gleiche gilt für Vertrauen in die Regierung. Für eine etwaige neue Welle verheißt das nichts Gutes: Denn laut Umfragen hat der Glaube an die Regierenden in Österreich stark abgenommen. (Gerald John, 25.2.2022)