Ekaterina Degot: "Wir alle hoffen, Putins Regime zu Fall zu bringen"

"Russland versucht, den Westen mit den Technologien zu schlagen, die dieser selbst hervorgebracht hat." Ekaterina Degot
Foto: Heribert Corn www.corn.at

Im Rahmen des Steirischen Herbstes ist die russische Kunsthistorikerin und Intendantin Ekaterina Degot mit pointierten Deutungen von Gewaltideologien hervorgetreten. Jetzt äußert sie sich bestürzt über die russische Aggression gegen die Ukraine – und spricht mit Blick auf den Kreml von einem "verbrecherischen Regime".

STANDARD: Mit der Wahrmachung seiner Drohungen in Richtung Ukraine hat Wladimir Putin den Bezirk "symbolischer" Verlautbarungen verlassen. War die Idee eines großrussischen Nationalismus nach dem Kollaps der Sowjetunion nur temporär ad acta gelegt?

Degot: Zunächst einmal muss ich sagen, dass ich als russische Staatsbürgerin extreme Wut empfinde, jetzt, da Russland einen schändlichen, regelrechten Krieg gegen die Ukraine begonnen hat. Wie viele andere sage ich: "Nicht in meinem Namen." Wobei ich mir gleichzeitig bewusst bin, dass wir Russen alle dafür verantwortlich sind, dass wir den Krieg im Jahr 2014 nicht verhindern konnten, genauso wie 2008 einen Blitzkrieg gegen Georgien, der fast unbemerkt blieb.

STANDARD: Um welche Art von Krieg handelt es sich jetzt?

Degot: Meiner Ansicht nach haben wir es im Falle Putins nicht mit russischem Nationalismus zu tun. Dieser Krieg ist ganz anders als die Jugoslawienkriege. Nationalismen aller Art wurden nach 1989 in der ganzen Welt und insbesondere in Mittel- und Osteuropa normalisiert und als Mittel gegen Kommunismus und Internationalismus gefördert. Währenddessen wurde der koloniale Aspekt des nationalsozialistischen Drangs nach Osten verdrängt. Putin stützt seinen Diskurs und seine Handlungen nicht auf einen spezifisch russischen Nationalismus, sondern auf imperiales und koloniales Denken.

STANDARD: Wie sieht dieses aus?

Degot: Er gibt Lenin die Schuld dafür, dass die Ukrainer eine vollwertige Nation werden konnten. In seiner "übernationalen" Haltung empfindet er sich selbst als europäischer als das moderne Europa. "Seines" ist natürlich das koloniale Europa des 17. Jahrhunderts, aber das ist Europa. In einem verzerrten Spiegel zeigt uns Putin die gewalttätige westliche Geschichte und nicht das Gesicht eines barbarischen Muschiks. Länder wie Russland versuchen, den Westen mit seinen eigenen Waffen zu schlagen, mit all den Technologien, die der westliche Imperialismus hervorgebracht hat.

STANDARD: Hatte man vergeblich auf eine "Verwestlichung" Russlands gehofft?

Degot: Die These von der Notwendigkeit, Russland zu "verwestlichen", die man sowohl vom Westen als auch von russischen Liberalen oft hört, ist leider rassistisch und eine der vielen Ursachen für den derzeitigen Krieg. Jedes Narrativ, das Länder als "westlich genug" oder "nicht westlich genug" definiert, ist gefährlich. Nicht, weil es einige dieser Länder beleidigt und eine Gegenreaktion hervorruft, sondern weil es die zweifelhafte These der westlichen moralischen Überlegenheit untermauert. Dennoch gibt es keine Rechtfertigung für Putins Krieg. Ich bin mir sicher, dass diejenigen, die ihn begonnen haben, als Kriegsverbrecher vor einem Gericht enden werden.

STANDARD: Was bedeutet der Neo-Bellizismus für die russische Intelligenzia?

Degot: Ich bin überzeugt, dass dieser Krieg von den einfachen Russen nicht unterstützt wird. Er wird von niemandem gebraucht, nicht einmal von Militärs, Politikern und Oligarchen. Aber in Russland ist es heute eine Straftat, auch nur allein auf der Straße zu protestieren. Die Worte "Nein zu Krieg" sind ein Verbrechen, und im russischen Gefängnis kann man schnell tot sein. Niemand, der nicht selbst eine solche Erfahrung gemacht hat, hat das Recht, den Russen Passivität vorzuwerfen. Dennoch schweigen die Intellektuellen nicht, auch wenn ihre Artikulationsmöglichkeiten auf äußerst prekäre Online-Portale beschränkt sind. Sie sind demoralisiert und stehen unter Schock. Es gibt auch diejenigen, die ein böses Erwachen erleben. Russische Intellektuelle haben wenig Erfahrung mit der freien öffentlichen Debatte, aber historisch gesehen haben sie eine enorme Erfahrung mit verdeckten politischen Aktionen, Gedanken und Überlegungen. Ich bin mir sicher, dass sie diese Erfahrung jetzt benutzen. Wir alle hoffen, mit unseren winzigen Bemühungen das derzeitige verbrecherische Regime zu Fall zu bringen.

Ekaterina Degot (63) ist Moskauerin und leitet seit 2018 das Festival Sterischer Herbst.

DER STANDARD


Jurko Prochasko: "Spätestens jetzt sollte klar sein, dass Putin Hitler gleicht"

"Das russische Bestreben ist, die Ukraine und ihre amtierende Regierung komplett zu desorganisieren." Jurko Prochasko
Foto: Imago / gezett

Am Tag des russischen Generalangriffs ging er noch seiner Arbeit als Psychoanalytiker nach: Der in Lemberg (Lwiw) lebende Literaturwissenschafter und Übersetzer Jurko Prochasko malt ein düsteres Bild von den Kampfhandlungen und ihren Auswirkungen auf sein Land.

STANDARD: Überrascht Sie das Ausmaß des russischen Angriffs?

Jurko Prochasko: Es wurden am Donnerstagmorgen auch in Ostgalizien Städte angegriffen, zum Beispiel Ivano-Frankivsk, meine Geburtsstadt. Dort haben Raketen am Flughafen große Zerstörungen angerichtet. Auch in der Region Lemberg, in einem Umkreis von 40 bis 60 Kilometern, sind Militärstützpunkte aus der Luft attackiert worden.

STANDARD: Und die Städte?

Prochasko: Ternopil und andere sind nicht zerstört worden. Die Angriffe auf das gesamte Staatsgebiet zeigen ein deutliches Muster. Es geht nicht allein darum, die militärische Infrastruktur am Boden zu zerstören. Die Flughäfen sollen als Landeplätze für mögliche Hilfslieferungen durch Verbündete ausgeschaltet werden. Hier bahnt sich eine wirklich dramatische Situation an. Im Moment sind Hilfslieferungen aus dem Westen nur über sehr enge Bodenkorridore möglich. Das meint die ukrainisch-polnische, ukrainisch-slowakische Grenze und so weiter. Es existiert die begründete Befürchtung, dass in diesem Fall unser Feind versuchen wird, besagte Grenzlinien zu bombardieren.

STANDARD: Es scheint früh klar geworden, dass es sich um keinen lokalen Angriff handelt?

Prochasko: Es ist offenkundig das schlimmste Szenario eingetreten. Das hat Putin in seiner nächtlichen Rede deutlich gemacht: Es geht um diese angebliche "Entnazifizierung" und "Entnationalisierung" der Ukraine. Das Bestreben ist, die Situation dermaßen zu desorganisieren, dass man auch die Regierung lahmlegt – und Besatzungsadministrationen einführt, die dann zu Exekutionen vor Ort, von lokalen Menschen, übergehen können. Angeblich sind die Listen derer, die beseitigt werden sollen, schon vorhanden. Die Definition des Feindesstatus kann dabei sehr frei interpretiert werden.

STANDARD: Wie kommt Putin dazu, mit Blick auf die ukrainische Regierung von einer "Junta" zu sprechen?

Prochasko: Wundert Sie diese Ausdrucksweise noch? Die Taktik Putins besteht seit Innehabung seiner Funktion als KGB-Offizier hauptsächlich darin, die Rollen zu verkehren. Spätestens jetzt sollte allen klar sein, dass Putin vollständig mit Hitler identifizierbar ist. In dieser Verkehrung von Täter und Opfer, von Aggressor und Angegriffenem, sucht er seinesgleichen.

STANDARD: Sie sagen: Hitler?

Prochasko: Sie haben mich völlig korrekt verstanden.

STANDARD: Hat der Westen zu lange der Erzählung vom "großrussischen Hegemonialraum" gelauscht und dabei irrtümlich geglaubt, hier würde symbolisch geredet?

Prochasko: Es war die vollkommene Verkennung der Realität – und der Bedrohung. Sie wurde aus mehreren Quellen gespeist: Naivität, Gier, Käuflichkeit – aber auch aus dem Verfall von intellektuellen Standards und dem von Expertise. Nehmen wir die beiden Länder, die Mitteleuropa zu einem Gutteil ausmachen, Deutschland und Österreich. Beide sollten ein historisch großes Verständnis von Mittel-Osteuropa haben, das sie auch für sich beanspruchen. Sie haben versagt. Die Expertise dort ist sehr, sehr schwach.

STANDARD: Die Ukraine wird von vielen Sympathisanten als heterogenes Land angesehen, mit bedeutenden integrativen Fähigkeiten. Würden Sie dem zustimmen?

Prochasko: Vollkommen. Aber genau in demselben Sinne, wie Deutschland heterogen ist, wie Italien, wie Spanien, wie Frankreich oder Polen. Da bilden wir überhaupt keine Ausnahme, sondern einen Regelfall der europäischen Nationenbildung.

STANDARD: Was sind Ihre nächsten unmittelbaren Erwartungen?

Prochasko: Es wird sich bald entscheiden, wohin sich die Waage neigt, ob in Richtung vernichtendes Desaster oder in Richtung langer Kampf. Was zusätzlich Sorgen, gerade für die Westukraine, bereitet, ist die Nähe zu Belarus. Es hat sich gezeigt, dass der Despot Lukaschenko dem Despoten Putin sein Vaterland zum Verkauf ausgeliefert hat. Jetzt agieren russische Truppen von Weißrussland aus. Ein weiterer, zentral beunruhigender Umstand: die Einnahme von Tschernobyl. Was das für Folgen haben könnte, das sollte jetzt die ganze Welt bewegen.

Jurko Prochasko (51) ist Lemberger Essayist, Germanist und Analytiker. 2004 engagierte er sich in der Maidan-Bewegung in Kiew.

(Ronald Pohl, 26.2.2022)