Viel wurde seit Beginn des Ukraine-Konflikts darüber spekuliert, wie weit der russische Präsident Wladimir Putin mit seinem Angriff auf das Nachbarland gehen würde. Eine Antwort darauf weiß derzeit außer dem innersten Zirkel im Kreml wohl niemand. Am Freitag erreichten russische Truppen Kiew – ein erstes wichtiges Ziel von Moskaus weltweit geächteter Aggression.

Frage: Welchen Routen folgt der russische Einmarsch aktuell?

Antwort: Mit Stand Freitagnachmittag ist die russische Militäroperation in ihre zweite Phase eingetreten, wie Markus Reisner von der Forschungs- und Entwicklungsabteilung der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt dem STANDARD erklärt. Nach der Eröffnungsphase am Donnerstag, in der die russische Armee eine Art "Enthauptungsschlag" mit Angriffen in der Tiefe, Cyberattacken und der Zerstörung von Kommunikationseinrichtungen versucht hat, tritt die Offensive nun in die Entscheidungsphase ein. "Die Russen nennen diese Phase ‚Angriff zum Durchbruch‘ und wollen damit in die Tiefe des Landes durchdringen." Wenn es gelinge, strategisch wichtige oder symbolhafte Ziele in Kiew zu erobern, etwa das Parlament oder den zentralen Maidan-Platz, habe dies auch Einfluss auf die Kampfmoral der ukrainischen Truppen. In der dritten Phase dürfte die russische Armee versuchen, sich etwa am Fluss Dnjepr zu konsolidieren, um dann, in Phase vier, womöglich weiter in den Westen der Ukraine vorzustoßen.

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Aus Charkiw und Sumy im Nordosten der Ukraine werden russische Vorstöße gemeldet.
Foto: AP / Vadim Ghirda

Frage: Wie stellt sich die Lage außerhalb von Kiew dar?

Antwort: Von der 2014 annektierten Krim aus dringen seit Beginn des Einmarschs russische Soldaten auf das Festland vor. Ein Ziel haben sie Berichten zufolge schon erreicht: den Krim-Kanal, der für die Wasserversorgung der Halbinsel entscheidend ist. Auch aus Charkiw und Sumy im Nordosten der Ukraine werden russische Vorstöße gemeldet, am wenigsten weiß man derzeit Reisner zufolge aus den Separatistengebieten rund um Luhansk und Donezk.

Frage: Wie ist es um die Widerstandskraft der ukrainischen Armee bestellt?

Antwort: Fest steht, dass es der Ukraine zunehmend schwerfällt, die Luftherrschaft aufrechtzuerhalten. Reisner zufolge konzentriert sich die ukrainische Luftabwehr aktuell auf Kiew. Auch die Raketenabwehr der Ukraine erweist sich als löchrig, weil russische Kalibr-Marschflugkörper und Iskander-Mittelstreckenraketen in großer Zahl an ihre Ziele gelangt sind. Zwar ist die Kommunikation mit dem Osten des Landes weitgehend zusammengebrochen, Reisner beruft sich aber auf Indizien, wonach durch den Einsatz schwerer Waffen, etwa Mehrfachraketenwerfer, viele ukrainische Soldaten gefallen sein dürften. "Gelingt der russischen Armee ein Enthauptungsschlag in Kiew, kann alles sehr schnell gehen", sagt Reisner. Falls nicht, könne es durchaus zwei bis drei Wochen dauern, bis der Widerstand der ukrainischen Armee gebrochen ist. Was den Faktor Abnützung betrifft, kann die Ukraine aber ohnehin nicht mit den russischen Angreifern mithalten.

Frage: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat die Generalmobilmachung verkündet, seine Behörden teilen Waffen aus. Was bedeutet das für die Situation?

Antwort: Mit der Bewaffnung von Zivilistinnen und Zivilisten bewegt sich Kiew auf gefährlichem Terrain – nicht nur deshalb, weil Russland allgemein zugetraut wird, jegliche Angriffe brutal zu vergelten, sondern auch, weil man damit mit dem Unterscheidungsgrundsatz des Völkerrechts in Konflikt gerät. "Man läuft Gefahr, dass Kombattanten nicht mehr von Zivilisten unterschieden werden können", sagt Reisner. Das Risiko für die tatsächlich unbeteiligte Zivilbevölkerung würde dann noch einmal um ein Stück größer. Außerdem besteht Zweifel daran, dass die ukrainischen Kräfte in so kurzer Zeit genügend einsatzfähige Freiwillige mit Ausrüstung versorgen können.

Frage: Muss sich die russische Armee auf einen großflächigen Häuserkampf in Kiew und anderen ukrainischen Städten einstellen, wie man es etwa aus Grosny kennt?

Antwort: "In der ersten Phase eher nicht, weil die Russen die urbanen Räume zu Beginn möglichst aussparen werden, um dort nicht aufgehalten zu werden", sagt Reisner. Sobald das erste Kriegsziel, also die Eroberung weiter Landstriche in der Ukraine, erreicht ist, könne es aber durchaus dazu kommen – mit Risiken auch für die russische Armee: "Bei Häuserkämpfen würde es auch zu massiven Verlusten auf der russischen Seite kommen. Die Einstellung in der Zivilgesellschaft, deren Söhne dort womöglich im Kampf fallen, könnte sich dann schnell und massiv ändern."

Frage: Wie könnte eine mögliche Guerilla-Kriegsführung der Ukrainer aussehen?

DER STANDARD

Antwort: Asymmetrische Kriegsführung der offiziell Besiegten, etwa durch Anschläge und punktuelle Angriffe auf Besatzungstruppen, hat schon der US-Armee im Irak nach 2003, deren "Shock and Awe"-Strategie zu Beginn erfolgreich schien, schwer zu schaffen gemacht. In der Ukraine könnte es durchaus ähnliche Entwicklungen geben, glaubt Reisner. "Vor allem im Westen des Landes, der als pro-europäisch gilt, könnte es nach einem anfänglichen Schock zu Widerstandsbewegungen kommen. Die Frage ist, ob es Russland tatsächlich riskiert, bis an die Westgrenze vorzurücken, weil es das Land ja dann auch möglicherweise länger besetzen wird müssen." Als Besatzungstruppen und für den Kampf im urbanen Raum soll Putin Soldaten aus Tschetschenien bereithalten.

Frage: Der Westen will die Ukraine weiter mit Waffen versorgen. Wie kann das funktionieren, wenn möglicherweise bald die gesamte Ukraine von Russland besetzt ist, das auch den Luftraum kontrolliert?

Antwort: Sollte die russische Armee tatsächlich das ganze Land überrollen, dürfte es sehr schwierig werden, von den westlichen Nato-Nachbarländern aus Waffen in die Ukraine zu schmuggeln. Eine mögliche Schneise sieht Reisner in Nacht-und-Nebel-Aktionen: "Man könnte dann versuchen, in abgelegenen Grenzregionen mittels Fallschirmabwurf und ausgemachten Signalen Waffen dorthin zu bringen." Gelingt es der Ukraine, zumindest einen Teil ihres Territoriums zu halten, könnte der Westen eine entstehende Widerstandsbewegung durch Waffenlieferungen aus der Luft oder auf dem Landweg unterstützen.

Frage: Wie sicher sind die Atomruine von Tschernobyl und die vier anderen AKWs, die in der Ukraine in Betrieb sind?

Antwort: Erste Berichte über die Einnahme des 1986 havarierten Katastrophenreaktors durch die russische Armee am Donnerstag sorgten hierzulande für Nervosität, tatsächlich dürfte Tschernobyl aber einzig wegen seiner Lage an der Hauptroute der russischen Angreifer von Belarus nach Kiew interessant gewesen sein. "Weder Russland noch die Ukraine haben ein Interesse an einer katastrophalen Entwicklung dort", schätzt Reisner die Lage ein. Wichtig sei, dass beide Kriegsparteien die Bedienungscrews der übrigen vier aktiven Atomkraftwerke der Ukraine ihre Arbeit weitermachen lassen.

Frage: Was plant die Nato?

Antwort: Seit Wochen verstärkt das Militärbündnis seine Truppen an der Ostflanke, also vor allem in Polen, Rumänien und den baltischen Staaten. Ebenso häufig versichern führende Politiker, zuletzt Deutschlands Kanzler Olaf Scholz, dass die Nato alle ihre Mitglieder verteidigen werde – ein klarer Fingerzeig in Richtung Kreml, spätestens an der ukrainischen Westgrenze haltzumachen. "Die USA demonstrieren Moskau zudem etwa durch Flüge ihrer schweren Bomber ihre abschreckende Wirkung", sagt Reisner. Bisher, so der Bundesheer-Oberst, habe Russland diese Botschaft wohl verstanden. Ob dies so bleibt, steht in den Sternen. (Florian Niederndorfer, 26.2.2022)